Während unsere Protestbewegung an Schwung verlor und sich immer mehr linke Gruppen bekämpften, waren in Westberliner Stadtbild immer häufiger junge Menschen in einem warmen, orangefarbenen Outfit zu entdecken. Um den Hals trugen sie eine Kette aus Holzperlen und an ihrem Ende war in einem Medaillon das Bild ihres Gurus Bhagwans zu sehen. Ihr religiöses Zentrum befand sich in einem Hinterhof am Mehringdamm. Dort konnte man an der Dynamischen Meditation oder an der Kundalini teilnehmen. Bei der Dynamischen schrie ich mir die Seele aus dem Leibe, um in der letzten Viertelstunde auf dem Boden liegend meinen angenehm erschöpften Körper zu spüren. Der Kundalini, bei der ich fünfzig Minuten lang den ganzen Körper zu schütteln hatte, verdankte ich eine beseligende Trance.
Auch die Lust auf nackte Männer trieb mich hierher. Jeder hatte sich bis auf seinen Slip auszuziehen und eine der herumliegenden, leider meist recht versifften Augenbinden überzustreifen. Verschob ich sie ein bisschen, konnte ich die verschwitzten Rücken meist junger Männer bewundern. Auch meinem Freund Heinz gefiel diese östliche Spiritualität. In seiner Familie besuchte man an Heiligabend oder an Karfreitag den Gottesdienst. Heinz war konfirmiert worden, ohne dass er sich wie ich für Gott begeistert hätte. Jetzt lauschten wir den auf Kassette aufgenommenen Lesungen Bhagwans, der ein geistreicher Erzähler war. Heinzfing Feuer und flog nach Indien und besuchte Bhagwan in seinem Aschram in Poona. Von dort kam er nach einigen Wochen als "Adhigama" (Wanderer auf göttlichem Wegen) zurück, freilich auf einem Bein humpelnd.
"In the silence of the mountains" (Moody Blues)
Zusammen mit einem Freundespaar hatte ich KATEM, ein Zentrum für Körper- und Atemtherapie, gegründet. Ein Schweizer Therapeut bot uns seinen kleinen Bauernhof in den Bergen von Mallorca an. Als Anfang April 1978 Adhigama und ich auf der Insel ankamen, empfing uns ein warmer Frühsommer. Heinz hatte das Taschenbuch "PSI" mit, das in die Welt übersinnlicher Erfahrungen einzuführen versprach. Ich entdeckte das Kapitel "Das automatische Schreiben" und nutzte diese Brücke in eine nicht sichtbare Welt. Jeden Nachmittag setzte ich mich mit Stift und einem Schreibblock an den kleinen Tisch in unseren angenehm schattigen Innenhof. Wirklich begann nach drei Tagen meine rechte Hand zu schreiben. Schnell füllten sich mehrere Blätter mit chinesischen Zeichen. Obwohl ich sie nicht lesen konnte, war ich sehr beeindruckt. An einem der nächsten Nachmittage begann meine Hand zu malen. Den Bildern nach mussten es Kinder und eines von ihnen schien behindert zu sein. Als ob ich sie gefragt hätte, erzählte mir mein Stift ihre Geschichte. Sie seien aus Berlin und mit ihren Eltern bei einem Autounfall auf Mallorca ums Leben gekommen.
Seit meinem dreißigsten Lebensjahr machten mir meine Augen Probleme. Anfangs wurde aufgrund meines unscharfen Sehnervs ein Gehirntumor vermutet. Vielleicht gab es einen Rat "von oben". Schon beschrieb mein Stift eine Pflanze und eine Stelle an der Straße nach Alaro. Es war roter Mohn und ich hatte seine in Wasser aufgelösten Blütenblätter zu trinken. Ich rasierte mich nicht mehr und aß kaum noch etwas. Statt des Stiftes sprach inzwischen eine Stimme zu mir, die sich als Erzengel Gabriel vorgestellt hatte. Selbst nachts weckte mich mein neuer Freund und wir wanderten unter einem prachtvollen Sternenhimmel durch die Berge. Mein verrückt-sein und meine feurigen Augen machten Adhigama Angst. Er flüchtete in das einzige Zimmer, das man von innen verschließen konnte. Ich aber erhielt auf dem Bergrücken oberhalb unseres Hofes meine "Einweihung". Ich hatte mich nackt auszuziehen und auf einen am Hang liegenden großen Block zu legen. Nach Gabriel stand hier einmal eine Wikingerburg und um diesen behauenen Stein hätten sich bei Sonnenuntergang die Ritter versammelt. Er war angenehm warm und Ich spürte auf meinem Rücken die Strahlen der untergehenden Sonne.
"I`m looking for a miracle in my life!" (Moody Blues)
Nicht nur Heinz, der angeschlagen aus Indien zurückgekehrt war und sich eine neue Arbeit suchen musste, sondern auch ich steckte in einer tiefen Krise. Immerhin hatte ich drei Jahre zuvor meine Doktorarbeit beendet. Vier Jahre lang war ich dank eines Stipendiums der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein freier Mensch ohne finanzielle Sorgen gewesen. Vormittags saß ich in meiner Kreuzberger Slumwohnung in der Görlitzerstraße am Schreibtisch. Ich war der letzte Mieter in dem völlig heruntergekommenen Hinterhaus. Im Sommer wucherten auf der feuchten Treppe Pilze und im Winter war das Wasser auf dem Außenklo eingefroren. Noch mit einzelnen Gedanken und Formulierungen beschäftigt, bummelte ich an den Nachmittagen durch die Stadt. Die von Schwulen genutzten Toiletten hatte ich bisher gemieden. Wie Heinz fand ich es abstoßend, an diesen meist recht versifften Orten Sex zu suchen. Aber an einem schwülen Nachmittag war ich in den Bann einer Klappe geraten. Die Wände zu den Nachbarkabinen waren durchlöchert. Ich erspähte ein bisschen braune Haut. Der Mief machte mich benommen und ich schloss die Augen. Ich ging in die Knie und nuggelte an dem, was mir von drüben zugeschoben wurde. Nach zwei Stunden wieder draußen lief ich schamrot an. Mein Gewissen protestierte und fand die ganze Geschichte ziemlich peinlich. Doch mein Körper hatte Lust bekommen. Der Gedanke, fast rund um die Uhr und überall in der Stadt an Sex zu kommen, hatte meine triebhafte Seite wachgeküsst. Ich wurde klappensüchtig.
Selbst als ich ein Jahr später kurz hintereinander zweimal auf einer Toilette brutal zusammengeschlagen wurde, schaffte ich allen meinen guten Vorsätzen zum Trotz nicht den Absprung.
"Wir werden, was wir hassen." (Buddhistische Weisheit)
Ich, der 1968 aus Sympathie für Willy Brandt in die SPD eingetreten war, entdeckte durch Heinz die Sponti-Szene. Jetzt brüllte ich begeistert "Macht kaputt, was Euch kaputt macht!" (Ton-Steine-Scherben) und bewunderte als Schwuler den schwarzgelockten Georg von Rauch. Einmal nahm mich einer seiner Haschrebellen vom Tiergarten mit nach Hause. Von seiner Matratze fiel der Blick durch das offene Kellerfenster auf die mit Parolen besprühte Mauer. Bekifft und eng umschlungen verbrachte ich die bisher schönste Nacht meines Lebens. Überglücklich kaufte ich auf dem Winterfeldplatz einen Bund Rosen. Auf dem Weg zur Uni drückte ich jedem, der mir sympathisch war, eine Rose in die Hand. An dem Tag, als Georg von Rauch in der Eisenacherstraße von Zivilfahndern gestellt und erschossen wurde, war ich kurz vorher an dieser Stelle vorbeigelaufen. Auch ich verlor einen Menschen, der meine Fantasie gefangen genommen hatte.
Als die Wahlen zum Abgeordnetenhaus anstanden, warben überall in der Stadt große Plakate für den Spitzenkandidaten der CDU Peter Lorenz. Als die Medien seine Entführung meldeten, empfand auch ich Schadenfreude. Wirklich konnten die Entführer Gefangene der "Bewegung 2. Juni" freipressen. Der Staat hatte vor der Gewalt kapituliert. Selbst in einer Metropole des Kapitals hatte es eine Stadtguerilla geschafft, die Herrschenden in die Knie zu zwingen. Erst als nicht nur Prominente der herrschenden Klasse, sondern auch Menschen in ihrer Umgebung rücksichtlos niedergeschossen wurden, kamen mir Zweifel. In unserem Sponti-Info sollten wir immer neue Bekenntnisschreiben der Gruppen im Untergrund abdrucken. Der wachsende Fanatismus ihrer Überbringer stieß mich ab. Endlich schaffte ich es, mich vom Mythos der Militanz zu verabschieden. Ich schrieb in dem Westberliner Stadtmagazin "Zitty" eine Kolumne mit der Überschrift "Wir werden, was wir hassen". Durch meinen "Verrat" riskierte ich mein politisches Zuhause und mancher Genosse ließ mich seinen Hass spüren.
"I´m looking for someone, who change my life." (Moody Blues)
Hier in den Bergen von Mallorca fand ich einem Freund, der alle meine bisherigen Lebenssituationen kannte. Er wusste von meinen wenigen Liebesbeziehungen, bei denen ich gescheitert war. All die vielen Situationen, in denen ich mich schutzbedürftig und einsam gefühlt hatte, waren ihm vertraut. Er kannte meine Sehnsucht nach körperlicher Erlösung und wie sehr ich darunter litt, sexsüchtig geworden zu sein. Er erzählte mir meine bisherige Lebensgeschichte so berührend, dass mir die Tränen kamen. Als er an so manche peinliche Situation erinnerte, konnte ich plötzlich schmunzeln. Ich fühlte mich liebevoll umarmt. "I`m looking for someone, who change my life!" Ich hatte ihn gefunden!
Gabriel kam mit nach Westberlin. gemeinsam lernten wir Knast und Psychiatrie kennen. Einmal führte uns unser Weg nach Lichtenfels in die dortige Korbmacherkommune. In der Nachbarschaft steht die von Balthasar Neumann gebaute, barocke Wallfahrtskirche "vierzehnheiligen". Dort wird als einer der vierzehn Nothelfer Florian, der Schutzpatron der Feuerwehr, verehrt. Sprach mich deshalb, als ich bekifft mit Ulli in Bett lag, eine Stimme mit "Florian-Maria" an?
Wieder zurück in Berlin war es Herbst 1979 geworden. Der linksradikale Gewaltspuk erreichte mit der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer ihren Höhepunkt. Ich schrieb mein Buch "Florian- die Geschichte eines (fast) zerbrochenen Herzens" - Link zum PDF-Download.
Ich hatte endlich zu mir gefunden und ahnte nicht, welches Zigeunerleben in den nächsten zwei Jahrzehnten auf mich zukommen würde.