Die Freak-Show

waldschloesschenIm folgenden Bericht erinnere ich an meine erste Freak-Show. Sie war bereits das 4. Treffen behinderter Lesben und Schwuler und fand im Mai 1995 im Waldschlösschen bei Göttingen statt.

 

 

 

 

 

 

AndreAndre, den ich dort kennenlernte, hat sich letztes Jahr das Leben genommen. Rüdiger, an Multiplis Sklerose erkrankt und ein treuer Teilnehmer, wurde tot in seinem Bad aufgefunden. Mani - ein Unikum im Rollstuhl - ist an Krebs gestorben. Als Frank an der Freak-Show teilnahm, war er bereits schwer krank. Wie Rufus starb er an den Folgen von Aids.

Auf einem der Treffen fotografierte Udo, den viele von uns schwulen geil fanden. Warum ihm Jahre später ein Bein abgenommen werden musste, weiß ich nicht. Zu den meisten aus dieser Zeit habe ich keinen Kontakt mehr. Auch bei uns Freaks war nach einigen Jahren die Freude des Aufbruchs verflogen. Doch diese gemeinsamen Tage haben uns bei der Annahme unserer Behinderung sehr geholfen.

Ines De Nil hat dieses Treffen in eindrucksvollen Fotos festgehalten. Danke für ihre Bilder, die viel von der Atmosphäre dieser Tage ahnen lassen.

Die Freak-Show

Mariamagdalena_Blutkachel_KopieMaria stöhnte noch einmal auf. Dann sank sie mit ihrer korpulenten Leibesfülle zu Boden. Dort lag schon Maria Magdalena. Angesicht der Schrecken dieses Ortes hatte sie das Bewusstsein verloren. Von den weißen Kacheln der Toilette tropfte Blut. Auf dem Boden hatte sich eine große, zähflüssige Lache gebildet. Die für diese Bluttat verantwortlichen Attentäter lehnten sich hochbefriedigt in ihren Rollstühlen zurück.

Vergeblich hatte sich die Gottesmutter Maria bemüht, den jungen Mann mit spastisch verkrümmten Armen und dünnen Beinen für ein Leben in Liebe zu gewinnen. Trotzig bestand er immer wieder nur auf Sex, Sex, Sex!

Maria_Magdalena_ganzKopieDie Blutspuren bestanden aus Ketchup. Als Mordwaffe diente ein Tortenheber. Maria war als die Einäugige bekannt. Der studierte Psychologe besaß auf einem Auge noch ein Prozent Sehkraft, die er geschickt zu nutzen verstand. Für die Berliner Schwulenberatung organisierte er ein Netzwerk behinderter Schwuler.

Dieses als Fotosession inszenierte Melodram gehörte zum bunten Programm der 4. Freak-Show. Ich spielte Maria Magdalena. Es machte Spaß und ich hatte die Beklemmung, die ich anfangs in dieser bizarren Gruppe gespürt hatte, vergessen.

 

 

 

 

 

 

 

Eine Rocky-Horror-Picture-Show

Manni_und_Loddlmutter_KopieBei der Vorstellungsrunde am Mittwochabend vor Himmelfahrt hatten mir viele Mitteilungen noch Angst gemacht. Ich war nach Jahrzehnten nachlassender Sehkraft völlig erblindet. Die aufgrund ihrer Kinderlähmung im Rollstuhl saßen, konnte ich mir noch ganz gut vorstellen. Bei der kleinwüchsigen Eileen hatte ich das ungute Gefühl, sie immer "von oben herab" anzusprechen. Wie konnte ein Mann sein Leben meistern, der ohne Blase auf die Welt gekommen war? Ein anderer erzählte von seinem Sturz von einem Baugerüst. Er forderte mich auf, seine im Schädel implantierte Stahlplatte zu betasten. Das fiel mir nicht leicht.

Wenn Regina immer wieder um Worte rang, ins Stotternd kam und ihr schließlich die Stimme wegblieb, herrschte anfangs betretenes Schweigen. Ich spürte einen unheimlichen Zwang, mich ebenfalls stammelnd einzubringen. Nicht nur für mich Blinden musste übersetzt werden, wenn sich ein Gehörloser zu Worte meldete. Bei so viel offensichtlicher Fremdheit erschien es mir nicht einfach, miteinander vertraut zu werden. Umso überraschter war ich, wie viel Nähe und Unbeschwertheit sich bereits im Laufe des ersten Tages einstellte.

 

 

 

Den Umgang mit Fremdheit einüben!

Manni_und_Schwester_Rabiata_Freakshow_KopieJahrzehntelang hatte ich mich in der schwulen Sub herumgetrieben. Ich achtete auf mein Outfit und trainierte meinen Körper. Auf diesem Treffen musste die muskelschwache Verena von ihrer Freundin aufs Zimmer getragen werden. Wäre ich zu so viel Liebe fähig? Und könnte ich mich in Stephen verlieben, der als achtzehnjähriger ohne Bauarbeiterhelm in die Tiefe gestürzt war? In dreieinhalb Krankenhausjahren hatten sie ihn wieder zusammengeflickt. Ein Loch im Schädel und gelegentliche epileptische Anfälle erinnern ihn immer wieder an dieses schreckliche Geschehen, das so brutal seine Jugendzeit beendet hatte. Svens seltsam süße Stimme sprach mich an. Er muss mit einem Glasauge und einen Armstumpf sein Leben meistern. Anderen schien so viel offensichtliche Fremdheit weniger als mir auszumachen. Unter den Lesben war so manches glückliche Paar. Vielleicht fällt es Frauen leichter, die innere Schönheit eines anderen zu entdecken.

Auch wenn der Himmel meist bewölkt war und es ab und zu regnete: ich habe dort viele warme Stunden erlebt und meine Berliner Sexwelten nicht vermisst. Eine alte ZEN-Weisheit lautet: Aus der Bahn geworfen, auf den Weg gebracht.

Das Schicksal hatte aus uns Krüppel gemacht. Jedem fiel es nicht leicht, sich lieb zu gewinnen und voller Vertrauen sein Leben anzugehen.

Danke für diese sommerlich unbeschwerten Tage!

 

 

 

 

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