GESCHICHTEN AUS DEM ALLTAG EINES BLINDEN
1. Im Griff von zwei frommen Frauen
Samstagnacht in der U-Bahn-Station Nollendorfplatz. Ich bin auf der untersten Ebene ausgestiegen. Plötzlich hebt jemand die Spitze meines Blindenstocks hoch und zieht mich hinter sich her. Auf der Rolltreppe dreht sich meine unbekannte Helferin um und fragt mich: "Haben Sie schon einmal etwas von Jesus Christus gehört?"
"JA" sage ich. "Der hätte mich sicher liebevoller angesprochen."
Mein schräger Engel lässt den Blindenstock fallen. Er ist in dieser Nacht nicht alleine unterwegs. "Wir werden für Sie beten!" ertönt es aus einem Munde.
"Das kann nie schaden." bedanke ich mich und setze vom frommen Zugriff erlöst meinen Weg nach oben fort.
2. Gabel oder Löffel?
In meiner Nachbarschaft wird eine Kneipe neu eröffnet. Sie lädt zu einem kostenlosen Büffet ein. "Ich habe Lust auf viel Salat." erkläre ich Peter. "Löffel oder Gabel?" fragt er und meine Antwort ist "Eine Gabel". "Aber mit einem Löffel kämest Du besser zurecht!" belehrt mich Peter. Stur bestehe ich auf meiner Gabel.
Meine Finger ertasten einen bis an den Rand gefüllten Teller. Ich mache mich mit meiner Gabel an die Arbeit. Plötzlich spricht ein Fremder vom Nebentisch Peter an. "Mit einem Löffel käme er viel besser zurecht." " Der Meinung war ich auch." entschuldigt sich Peter. Der Fremde steht auf und nimmt mir meine Gabel aus der Hand. Dann kommt er mit einem Löffel zurück und setzt sein Gespräch mit Peter fort. "Mein Großvater war auch blind. Bei Blinden darf man nicht lange fackeln. Da muss man handeln!"
Ich löffle meinen Salat und denke an den armen Großvater.
3. Frühling
Wenn im Garten die ersten Krokusse blühen oder im Mai die Apfelbäume Blüten treiben, lässt sich meine blinde Mutter zu den Frühlingsboten führen. Zärtlich berührt sie die zarten Knospen und verharrt einen Moment in tiefer Ergriffenheit.
Seit meinen Kindertagen höre ich das Lied, wie tapfer meine Mutter ihr Schicksal meistert. Jetzt bin auch ich schon seit über fünfzehn Jahren blind. Der Frühling ist für mich eine besonders schmerzhafte Zeit. Alle um mich herum freuen sich über die Rückkehr der Farben. Ich aber werde niemals mehr einen blühenden Kirschbaum oder einen strahlend blauen Sommerhimmel bewundern können.
Im November lebt es sich wieder leichter, wenn alle das trübe Wintergrau beklagen.
4. Der ungebetene Helfer
Ich möchte auf dem U-Bahnhof Möckernbrücke in die untere Linie umsteigen. Auf der Zwischenebene bietet mir ein Mann seine Hilfe an. Seine Alkoholfahne schreckt mich ab. Ich lehne dankend ab. Trotzdem heftet er sich an meine Fersen. Auf einer langen Rolltreppe geht es nach unten. Plötzlich schreit er "Jetzt". Vor Schreck mache ich einen Schritt vorwärts und stürze die letzten drei Stufen hinunter. Das hätte übel ausgehen können.
Mein Helfer lässt sich nicht abschütteln. Meine Schritte werden unsicherer und jede Stufe kann jetzt zum Verhängnis werden. Ich bin erleichtert, als sich endlich die U-Bahn-Tür hinter mir schließt.
Wie wir Blinden werden auch viele Alkoholiker als Außenseiter wahrgenommen. Wenn dann auch ich noch die angebotene Hilfe ablehne, reagiert mancher hasserfüllt. Oft ist es klüger, ihn als Helfer zu akzeptieren statt den schwankenden Mann abzuweisen.
5. Engel und Dämonen
"Was sucht der Mann mit dem Stock im Boden?" fragt ein Kind seine Mutter. Diese wartet mit der Antwort, bis ich mich entfernt habe. Offenbar ist ihr die Neugierde ihres Kindes peinlich.
Manchmal antworte ich statt der Mutter: "Ich suche einen vergrabenen Schatz. Kannst Du mir helfen?" Das Kind reagiert belustigt. Meist weiß es nicht so recht, ob es mir glauben soll.
Kinder haben zu einer Behinderung noch ein unbefangenes Verhältnis. Sie fühlen sich geschmeichelt, wenn sie helfen können. Aber es kann auch ganz anders kommen.
Ich döse auf einer Wiese vor mich hin. Plötzlich spüre ich, wie sich jemand an meinen Blindenstock heranschleicht. Sicher ist es wieder der achtjährige Achmet. Er hat zu Hause wenig zu lachen. Sein Vater ist seit Jahren arbeitslos. Anfangs bin ich Achmets Zurufen treuherzig gefolgt und gegen manche Wand gerannt. Jetzt gelingt es ihm nicht mehr so leicht, mir ein Bein zu stellen.
Ich lasse einen Schrei los und eine kichernde Kinderhorde entfernt sich.
6. Der blinde Weise
Ich bin unterwegs auf der Warschauer Straße. Plötzlich höre ich hinter mir heftiges Geschnatter. Es hört sich fernöstlich an. Dann werde ich links und rechts untergehakt. Mein Blindenstock schwebt in der Luft. Dem Lachen nach zu schließen macht es meinen Begleiterinnen viel Spaß. Sie kommen aus einer Kultur, die im Blinden den Weisen sieht. Es bringt Glück, für einen Moment seine Wirklichkeit zu teilen. Hundert Meter weiter lassen sie mich wieder allein.
Der christlich geschulte Blick sieht in mir einen vom Leid Gezeichneten. Nicht Fröhlichkeit, sondern Mitgefühl erscheint als die angemessene Reaktion. Aber vielleicht hat mein Unglück auch noch eine andere, glücksbringende Seite.
7. "Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes!"
Er muss mich in der U-Bahn entdeckt haben. Als ich sie an der Endstation verlasse, folgt er mir. Unter freien Himmel spricht er mich an: "Im Namen Jesus Christus, der die Blinden geheilt und die Lahmen das Gehen gelehrt hat, kann ich Dir Dein Augenlicht wiedergeben!"
Mein Schweigen deutet er als Zustimmung. Er legt seine Hände auf meine Schultern und beginnt zu beten. Vorbei ratternde S-Bahnen untermalen den Klang seiner lateinischen Fürbitten. Schließlich legt er seine warmen Handflächen auf meine Augenhöhlen.
"Ich spreche Dich los von deinen Sünden im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes." Dann schlägt er offenbar ein großes Kreuz über mich. Mir ist inzwischen eingefallen, dass er mich schon einmal geheilt hat. Es geschah vor etwa zwei Jahren und mitten im geschäftigen Treiben auf der Warschauerstraße.
Sein tiefer Ernst und seine religiöse Inbrunst machen aus ihm einen sympathischen Irren.