Am 6. Dezember 1968 wagte ich mich zum ersten Mal in eine schwule Bar. Ich weiß das so genau, weil mir am Eingang des Trocaderos ein junger Mann einen Schoko-Nikolaus in die Hand drückte. In der schwulen Nachtwelt fühlte ich mich viel unsicherer als tagsüber in den Seminaren oder auf einer unserer vielen Demos. Hier wurde ein anderes Outfit erwartet. Ich zwängte mich in hautenge, verwaschene Jeans. Das weiße, körpernah geschnittene Plüschhemd erschwerte das Atmen. Meine armen Zehen litten unter den spitz zulaufenden Schuhen. Aber diese Verkleidung half mir, mich in dieser Welt wortlosen Werbens zu behaupten.
Am schönsten war es, wenn im benachbarten Kleist-Casino die Tanzfläche in einem angenehmen Dunkel versank. Dann stürzte ich mich auf eine zuvor ausgespähte Schönheit. Wenn ich keinen Korb bekam, schmiegten sich in zwanzig Blues-Minuten zwei erregte Leiber immer enger aneinander. Ich lernte ein Gefühl kennen, das unheimlich und aufregend zugleich war.
Damals wohnte ich im Zikadenweg in Eichkamp, einer am Grunewald gelegenen Gartensiedlung. Die Familie unter mir aß kein Fleisch. Die beiden Töchter sollten frei aufwachsen. Ich hörte auf meinem Balkon die sanften Belehrungen der Mutter und die wild herumtobenden Kinder. Wenn abends der Vater, ein Architekt, heimkehrte, kam es oft zu einem schrecklichen Donnerwetter. Der genervte Mann brüllte seine in Güte erstarrte Frau und die erbittert streitenden Töchter an.
Auf einem Sonntagsspaziergang hatte ich in der Nähe des Teufelsees eine eingezäunte Schonung entdeckt. Auffallend viele Männer verließen den Weg und verschwanden hinter Buschwerk und den lichten Stämmen junger Birken. Schließlich wagte auch ich mich ins Abseits. Ein Labyrinth aus schmalen Wegen empfing mich. Mancher ausgetretene Pfad endete an sandigen Plätzen, wo nackte Leiber in der Sonne dösten. Ich blieb am Rande sitzen und sah dem Treiben zu. Mein aufgeregtes Herz wurde ruhiger. Eine angenehme Müdigkeit überfiel mich. Ich sah mich als Pfadfinder mit brennenden Füßen und traumverloren einem Ziel zuwandern. Hier aber lockte hautnaheres Vergessen. Vor meinen Augen fand ein lautloses Sich-Zeigen und Werben statt. Ab und zu verschwanden die Männer hinter Büschen. Noch rebellierte mein Gewissen gegen diese Naschwelt, während ich in meiner kurzen Hose ein angenehmes Prickeln spürte.
Ein paar Wochen später nahm mich von der Liegewiese am Teufelssee ein schokobrauner Knabe mit nach Hause. Zu meiner Verwunderung nannte er sich Baby Jane. Richtig hieß er Rainer und wohnte bei seiner Mutter in Steglitz. Er war Student an der Pädagogischen Hochschule in Lankwitz. Baby Jane führte mich in seine kleine Höhle, deren Wände er mit Alu-Folie tapeziert hatte. Er zog mich auf eine große, mit Plüschtieren übersäte Matratze. Aus den Boxen seiner Stereoanlage dröhnte "Für mich solls rote Rosen regnen". Ich nahm mir diesen Wunsch zu Herzen und kam am nächsten Tag bis über beide Ohren verliebt mit einem großen Rosenstrauß wieder.
Leider musste ich ein paar Tage später in meine fränkische Heimat. Ich überließ Rainer meinen Citroen. Er hatte schon als Junge auf einer Toilette die schwule Liebe kennen- und schätzen gelernt. Jetzt konnte er mit meinem Auto in den nächsten zwei Monaten alle Klappen Westberlins anfahren. Als ich Provinztussi zurück war und meine Bettqualitäten Baby Jane ernüchterten, war diese kurze Sommerliebe zu Ende und es war Herbst geworden.
Es wird noch Jahre dauern, bis ich mich in eine solche Toilette wagte und schließlich klappensüchtig wurde.