Vom schwierigen Umgang mit der Nacktheit

WG1Vor über dreissig Jahren war ich ein gern gesehener Gast in einer Landkommune im mittelfränkischen Jobstgreuth. Tonangebend in dieser Gemeinschaft mit häufig wechselnden Mitgliedern war Raymond Martin. Ein kreativer, junger Mann mit viel Liebreiz, der nicht nur Frauen zu bannen verstand, sondern mit seinem Vertrieb von Erwachsenen-Comics auch finanziell recht erfolgreich war. 

Von den drei Frauen, die von ihm ein Kind bekamen, waren nur Ulrike und ihre gemeinsame Tochter Lisa Jobstgreuth treu geblieben. Da Raymond nur Männer duldete, die sich ihm unterordneten und so mancher Gast dazu nicht bereit war, litt die Gemeinschaft an chronischem Männermangel. Oft beklagten die Frauen beim Frühstück ihren sexuellen Notstand, während der Chef im Lager oder im Garten das nächste Nümmerchen schob.

Lisa war drei Jahre alt, als ich sie kennenlernte. Am liebsten tollte sie nackt durch die Gegend. Wenn wir mit dem Hofhund Wanja durch den Wald streiften, beeindruckte sie mich durch immer neue Entdeckungen am Wegrand. Ihr Vater genoss es, mit ihr rumzuschmusen. Fickende Paare waren Lisa genauso vertraut wie wir Männer, wenn wir nackt Holz hackten, die Wiese mähten oder den Stall ausmisteten.

Ich erinnere mich an eine Situation, als Lisa zu mir in die Badewanne geklettert war. Natürlich hatte sie begriffen, dass die schlaffen Zipfel der Männer gewaltig anzuwachsen verstehen. Angestrengt mühte sie sich ab, meinen Pimmel steif zu bekommen. Verunsichert ließ ich das Kind, das einen gehetzten Eindruck machte, gewähren.

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Wurde aus Lisa, die den Sex Erwachsener so hautnah miterlebt hatte, eine sexuell freizügige Frau?

Als ich sie Jahrzehnte später befragte, erzählte sie mir, dass sie in der Schule manche Reaktion ihrer Mitschülerinnen nicht verstanden hatte. Etwa, warum sie ängstlich ihre Nacktheit verbargen, sobald die Türe zum Umkleideraum aufgerissen wurde. Ihre erste, große Liebe war ein Junge aus dem Nachbardorf. Er spielte begeistert Fußball und hatte keinen Kontakt zu der damals recht farbigen, ländlichen Alternativszene. Das sexuell freizügige Treiben ihrer Eltern hat Lisa in der Lust offenbar eher scheu und zurückhaltend gemacht. 

Ein hygienisierter Umgang mit dem Körper

Gerade das offene Sprechen über Sex hat mir damals in Jobstgreuth gut gefallen. Ich kam aus einem Elternhaus, in dem Lust kein Thema war. Zwar blieb die Badezimmertür unverschlossen und ich habe meine Eltern von klein auf nackt erlebt, aber es gab zwischen ihnen keine körperliche Nähe.

Meine Geburt muss anstrengend gewesen sein. Mutters Brustdrüsen hatten sich entzündet und sie konnte mich nicht stillen. Gleichzeitig eskalierte eine Augenkrankheit, die man schon bei der Zehnjährigen entdeckt hatte. Ihre allmähliche Erblindung und die anfallende Arbeit konnte Mutter nur mit großer Willensanstrengung meistern. Ich entzog mich nicht, wenn sie mich rief. Aber an Situationen hautnaher Innigkeit kann ich mich nicht erinnern.

Sicher hat auch mein Vater unter dieser unsichtbaren Grenze gelitten. Er war ein großer Schmachter mit schmalen Lippen. Seine Fröhlichkeit und Herzlichkeit gaben mir das Gefühl, geborgen zu sein. Er holte sich sein sinnliches Selbstbewusstsein bei der körperlichen Arbeit oder bei seiner Tätigkeit in Vereinen. Selbstdisziplin und Willensanstrengung bestimmten in dieser Generation den Umgang mit dem Körper. 

Kinder-Welten

BILD081Meine frühen Jahre liegen für mich wie hinter einer Nebelwand verborgen. Bezeichnenderweise kann ich die Räume meines Kindergartens gut beschreiben, nicht aber das alte Haus mit Plumpsklo, in dem ich immerhin meine ersten sechs Lebensjahre verbracht habe. Ich war auf den ersten Blick ein unkompliziertes Kind. Ass alles, was auf den Tisch kam, und ließ mich ohne Widerrede ins Bett schicken. Aber ohne eine Milchflasche mit Nuggel konnte ich nicht einschlafen. Eine Tante, die Volksschullehrerin war, machte meine Mutter darauf aufmerksam, dass ich nicht meinem Alter entsprechend reden konnte. 

Auch wenn sich diese Einzelheiten bedrückend anhören, habe ich meine Kindheit als schön in Erinnerung. Kinder können sich über die gespürten Spannungen in ihrer Umgebung hinwegretten, indem sie sich eine Traumwelt einrichten. Diesen Rückzug haben meine Eltern durch Bücher erleichtert. Jeden Abend las mir Vater ein Märchen vor. Schon früh wurde mir Kasperle ein lieber Wegbegleiter. Ich entdeckte Bücher, in denen schwierige Jungen von warmherzigen Freunden getröstet wurden. Schon damals hoffte mein früh empfundener Mangel an körperlicher Nähe auf einen seelischen Ausgleich.

Ich war zehn Jahre alt und wir machten wieder einmal in Österreich Ferien. Das kleine Klo befand sich am Anfang der Treppe, die zu den Fremdenzimmern führte. Ich muss es in letzter Minute erreicht haben. Jedenfalls war ich hinterher recht erleichtert. Gleichzeitig empfand ich den Gestank, für den ich gesorgt hatte, als bestialisch. An dieses Klo und das peinliche Gefühl kann ich mich Bis heute genau erinnern.

Zum großen Rätsel wurde mir Franz, ein Spielkamerad. Manchmal, wenn ich ihn besuchte, saß er in einem kleinen Klo und las Micky-Maus-Hefte. Es war mir völlig schleierhaft, wie man es stundenlang in eigenen Mief aushalten konnte. Später begriff ich den Zusammenhang zwischen seiner schwierigen Familiensituation und diesem Rückzugsort. Franz Vater war Alkoholiker und die Mutter hatte nicht nur für die drei Kinder zu sorgen, sondern auch noch das Farbengeschäft zu führen. Ich habe Ihr leidgeprüftes Gesicht noch heute vor Augen.

Ein rauschhaftes Leben wagen!

Als ich in den siebziger Jahren an der Freien Universität in Westberlin Pädagogik studierte, war die große Zeit der Sozialisationsforschung. "Identität" war einer der Schlüsselbegriffe und es fiel sicher nicht nur mir schwer, uns anhand der mitgeteilten Forschungsergebnisse den Alltag der befragten Personen vorzustellen. Vom Körper war in diesen zahlreichen Studien nie die Rede. Ihn überließ man der Medizin. Die Psychoanalyse, in der konkreter über kindliche Entwicklung nachgedacht wurde , war an den Universitäten noch nicht angekommen.

WG3Nicht nur über die Nazizeit, sondern auch über die Lust wurde in unseren Herkunftsfamilien selten gesprochen. Wir protestierten gegen diese Tabus. Rauschhaftes Leben suchten wir nicht nur im politischen Kampf, sondern wir wollten diese Utopie auch beim Sex und Drogengenuss erleben. Meine Schilderung der Jobstgreuther Verhältnisse lässt ahnen, wie wir diesen Vorsatz in die Tat umsetzten. 

Natürlich war es geil, zuhause oder draußen nackt zu sein. es tat gut, angesichts fickender Paare oder des eigenen Steifen keinen roten Kopf mehr zu bekommen. Aber vielleicht überforderte unser Überschwang manchmal die Kinder. Unser freizügiges Verhalten sollte sie ermuntern, selbst ein freier Mensch zu werden. Aber Kinder brauchen erst einmal eine greifbare Ordnung, um sich sicher und geborgen zu fühlen.

Raymond Martin hat die maßlose Liebe seiner Mutter sicher genossen. Sie war eine geile Proletenmieze und hat dieses Potenzgefühl an ihren Sohn weitergegeben. Aber wie sie sich schnell mit Raymonds Vater verstritt, so waren auch Raymonds Ficks von ständigen Auseinandersetzungen begleitet. Stolz auf seine Potenz hielt er es oft für unnötig, feinfühlig oder zumindest respektvoll mit seinen Partnerinnen umzugehen.

WG4Wie lernt man diese Rücksichtnahme? Ich hätte Lisa damals in der Badewanne vermitteln können, dass sie mir wehtut und ich diesen Übergriff nicht möchte. Das Kind hätte gelernt, ebenfalls auf seine Gefühle zu achten und Übergriffe abzuwehren. Kinder brauchen körperliche Nähe. Aber sie sollten selbst entscheiden, wann und mit wem sie diese Erfahrung machen wollen. Inzwischen bin ich eher skeptisch, wenn Kinder mit Erwachsenen endlos rumschmusen. Manchmal habe ich den Verdacht, dass dabei in erster Linie die Erwachsenen auf ihre Kosten kommen. Aber unbestritten ist in den letzten Jahrzehnten der Kontakt zwischen den Generationen ehrlicher und wärmer geworden.