Vom schwierigen Umgang mit dem Leid und vom Sterben

"Nehmt Abschied, Brüder,

ungewiss ist jede Wiederkehr.

Die Zukunft liegt in Finsternis

und macht das Herz uns schwer.

Der Himmel wölbt sich übers Land.

Lebt wohl. Auf Wiedersehn.

Wir ruhen all in Gottes Hand.

Lebt wohl. Auf Wiedersehen."

Wenn wir Georgspfadfinder dieses Lied sangen, lief nicht nur mir ein Schauer den Rücken herunter. Sein eindringlicher Ernst berührte uns. Dabei bedrohte uns keine düstere Zukunft. Wir hatten das Glück, in eine sich abzeichnende Wohlstandsgesellschaft hineinzuwachsen.

Freilich mussten einige meiner Kameraden ohne Vater groß werden. Er war aus dem Krieg nicht zurückgekehrt. Nicht nur in meiner Familie wurde auf jeden Pfennig geachtet. Aber der erfahrene Mangel machte dankbar für alles Außergewöhnliche.

Kinder spüren das Leid in ihrer Umgebung. Aber die aufgeschlagenen Knie werden genauso schnell vergessen wie die Spannungen in der Welt der Erwachsenen. Weil wir die Kindheit wie einen Traum durchleben, erscheint sie uns im verklärenden Rückblick oft allzu schnell als ein verloren gegangenes Paradies.

Im Schatten des Krieges

Da sein Vater in den Krieg musste und seine Frau mit neun Kindern zurückließ, hatte mein Großvater mit vierzehn Jahren einen Brotberuf zu lernen. Mein Vater war einundzwanzig, als der nächste Weltkrieg ausbrach und er einrücken musste. Hätte ihn nicht in Russland eine Laus mit Fleckfieber infiziert, wäre er sicher wie die meisten Soldaten seiner Truppe gefallen.

Seine Kriegserfahrungen hatten aus meinem Vater einen leidenschaftlichen Pazifisten gemacht. Meine Eltern zeigten Verständnis, als ich gegen den Krieg in Vietnam auf die Straße ging.

Meinem Großvater hatten Nazizeit und sein Kriegseinsatz in Polen auf den Magen geschlagen. Er starb mit einundsechzig Jahren an den Folgen seiner Blutungen. Es war der letzte Sarg, der mit einem Pferdewagen zum Friedhof gefahren wurde. Wir folgten ihm schweigend. Vom Turm der Georgskirche war das Sterbeglöckchen zu hören. Die Autos hielten an. Die Menschen am Straßenrand blieben stehen und die Männer zogen den Hut. Dem Tod wurde noch öffentlich Respekt gezollt.

Berührt hatte mich seine Wirklichkeit schon Jahre vorher. Am Küchenfenster stehend beobachtete ich den Abfallsteg, wo Männer mit langen Stangen die Wörnitz nach der Leiche eines kleinen Jungen absuchten. Endlich wurde der Körper gefunden und weggetragen.

Vom Ringen um Sinn

Wahrscheinlich ist es menschlich, dass wir uns nach Lust sehnen und unser Leid zu ignorieren suchen. Ich war dreißig als der Verfallsprozess meiner Augen einsetzte. Aber ich klammerte mich an die Hoffnung, er würde zum Stillstand kommen. Als ich 1990 nach Berlin zurückkehrte, hatte mich dieses schon fünfzehn Jahre andauernde Leiden gezeichnet. Ich sah mich um nach einem Ort, wo ich meine Sehschwierigkeiten nicht verstecken musste und entdeckte das Café PositHIV, damals noch in der Großgörschenstraße in Schöneberg. Es nutzte einen ehemaligen Laden. Wenn wir Donnerstagmittag gemeinsam kochten, kauften wir Gemüse und andere Zutaten im türkischen Lebensmittelladen ein Haus weiter.

Johannes

Durch ihn wurde ich bereits im Frühling 1982 mit AIDS konfrontiert. Aufgeschreckt durch die schrecklichen Bilder schwerkranker Männer in San Francisco, wo wir Sommer 1973 zu Gast waren, ließ er sich als einer der ersten am Westberliner Robert-Koch-Institut anonym testen. Das Ergebnis fiel "positiv" aus und stürzte ihn in eine schwere Krise (link: Mein großer Bruder). Als er mich besuchte, war er bereits stark abgemagert. Ihn quälte ein chronischer Dünnschiss und ein heftiger Juckreiz. Er hatte das Gefühl, zum Tode verurteilt zu sein.

Vielleicht hatte er schon früher einmal an Selbstmord gedacht. Jedenfalls hatte er Luminal-Tabletten gesammelt. Für den in einem Buch empfohlenen Abgang fehlten ihm nur noch ein Dutzend Tabletten. Gemeinsam suchten wir Ärzte auf und baten sie um das notwendige Rezept. Aber alle schreckten davor zurück. Glücklicherweise muss ich im Rückblick sagen. Denn als Johannes sich Jahre später noch einmal testen ließ fiel das Ergebnis negativ aus. Offensichtlich waren beim ersten Mal Blutproben verwechselt worden.

Allein die Angst hatte seinem Körper so in Schrecken versetzt, dass er alle in den Medien beschriebenen Symptome zeigte. Jahre später wurde er auf der Transitstrecke in einen Unfall verwickelt. Auf dem Heimweg vom Waldschlößchen fiel auf der DDR-Autobahn der Motor aus. Johannes und Andreas versuchten, das Auto an den Rand zu schieben. Dabei wurden sie von einem LKW erfasst und mitgerissen. Andreas starb Tage später an seinen Verletzungen.

Uns, die wir noch voller Erwartungen an das Leben waren, schockte sein Tod. Johannes machte sich auf den Weg nach innen. Dabei half ihm sein Freund Alex, der regelmäßig einem Ashram in Indien besuchte. Auf Korfu, kurz vor dem Einschlafen, setzte plötzlich Johannes Herz aus. Im selben alter und ganz wie bei seinem Vater, der kurz vor Johannes Geburt verstorben war.

"Never born, never die" ist auf seinem Urnengrab zu lesen. Hat er sich zuletzt doch noch die buddhistische Sehnsucht, vom Leben erlöst zu werden, zu eigen gemacht? Mir, der ich so dankbar für diese Freundschaft bin, fällt diese Sicht zu teilen schwer.

Sinndeutung

War AIDS die Antwort auf unseren zügellosen Sex? Meine buddhistischen Freunde rätseln viel über den Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Einer im Café hatte sich bei seinem ersten Fick infiziert. Andere vögelten seit Jahren durch die Gegend, ohne mit AIDS bestraft zu werden.

Ziehen wir unser Unglück an und können wir uns durch eine veränderte Lebenshaltung gegen Krankheiten immun machen?

Harald

Mein Freund Harald erhoffte sich Heilung durch spirituelle Praxis. Kennengelernt hatten wir uns auf dem ersten Pfingsttreffen der Homosexuellen Aktion Westberlin. Er gehörte zu den jungen Schwulen, die aus Frankfurt angereist waren. Angezogen hatten mich seine sinnlichen Lippen und erst später wurden mir seine traurigen Augen bewusst. Er war noch ein Kind, als sich sein Vater umbrachte. Ich nahm Harald mit in meine Wohngemeinschaft und er verliebte sich in meinen freund Jürgen. Als sie zum ersten Mal das Bett teilten, wurde ich mit einem großen Blumenstrauß getröstet.

Harald hatte eine wunderschöne Stimme und studierte Gesang. Aber sie war zu schwach, um einen großen Raum ausfüllen zu können. Gerne erinnere ich mich an seine gemütliche Dachwohnung in der Eschersheimer Landstraße. Die zwei kleinen Räume waren voll mit Büchern und Schallplatten. Mittendrin stand ein Klavier, an dem wir den Umgang mit Tönen übten. Harald fand immer wieder einen Freund, der seine Begeisterung für klassische Musik teilte. Ich beneidete ihn sehr Um diese jahrelangen Freundschaften.

Den Tag begann er in einem Sessel sitzend mit der ersten Kanne Kaffee und einer selbstgedrehten Zigarette. Nikotin und Koffein waren seine Grundnahrungsmittel, die durch süße Teilchen ergänzt wurden. Die HIV-Infektion war zwar ein Schock, nahm ihm aber die Entscheidung über seine berufliche Zukunft ab. Jetzt konnte er ruhigen Gewissens seinen gewohnten Lebensstil beibehalten. Wie seine Spiritualität genau aussah, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls berichtete er von Ekstasen, die nach seinen Bekundungen selbst sein Aussehen verjüngten. Mir machten diese Wunderberichte Schuldgefühle, weil ich mein Augenleiden nicht in den Griff bekam.

Richtig liebgewinnen konnte Harald seinen Leib offenbar nicht. Irgendwann rebellierte sein Magen gegen die ungesunde Ernährung und leitete sein Sterben ein. Seine arme Mutter verlor den zweiten Menschen, den sie geliebt hatte.

Gustl

In der Aufbruchsstimmung der siebziger Jahre hatte sich auf eine meiner Kontaktanzeigen Gustl aus München gemeldet. Er wohnte mit Gottfried zusammen in einer Neubauwohnung in Oberwiesenfeld. Vom Küchenfenster sah man die wunderschöne Zeltkonstruktion des Olympiastadions. Hier saß abends öfters Gottfried, spielte Gitarre und besang die "Kais von Amsterdam" (ein berühmtes Chanson von Jaques Brell). Gustls Vater war im Krieg gefallen und an seine Stelle waren katholische Padres getreten. Seiner Mutter hat er in einer Kurzgeschichte im Münchner Dialekt ein anrührendes Denkmal gesetzt. Wie ich wollte Gustl einmal katholischer Priester werden. Jetzt zog es uns beide zu triebhaften, jungen Männern, die offensiver als wir ihre Lebensgier auslebten. Seine leiden-schafftliche Abhängigkeit von einem Heroinabhängigen schildert er in seiner Novelle "Herz-Schläge" (Erschienen im Rosa-Winkel-Verlag).

Gustl blieb trotz solcher bitteren Erfahrungen lebenslang ein Missionar, während mich mein Lebensweg in meinem Gott- und Weltverständnis scheu und unsicher machte. Im Auftreten manchmal eine Trine, stand er auch nach seiner AIDS-Infektion zäh weiter seinen Mann. Er bewährte sich in vielen pädagogischen Bereichen. Bildete sich weiter zum Therapeuten und erzählte mir alle paar Jahre stolz von einem neuen Buchprojekt. Wie er es bei seinen Padres gelernt hatte, machte er mir meine "berufliche Untätigkeit" nur sanft oder traurig schweigend zum Vorwurf.

Gottfrieds Sterben erlebte ich aus der Ferne mit. Es war Sommer und München bezauberte mich wieder mit seinem Englischen Garten und seiner schönen Umgebung. In den Isarauen bei Wolfratshausen erlebte ich, auf den Kieselsteinen dösend, traumhafte Stunden. Wenn ich am späten Nachmittag zurückradelte bedrückte mich der Gedanke, dass Gottfried jetzt mit dem Tode ringen musste.

Vom Umgang mit dem Leid

Als Blinder bin ich täglich mit Anteilnahme konfrontiert. Manche meinen es besonders gut und beginnen sofort mit einem Lob. Sicher würde ich jetzt viel besser hören und sensibler wahrnehmen als früher. Ich weiß nicht, ob dieser Ausgleich zu meinem Sehverlust wirklich stattgefunden hat. Es macht mir jedenfalls keinen Spaß, mit fremden Menschen sofort über mein Leid zu sprechen. Auch meine Mutter beherrscht diesen besitzergreifenden Kult herzlicher Anteilnahme. Aber ihr Schwung löst bei mir eher Distanz und Kargheit aus. Ich glaube nicht mehr, dass wir jederzeit offen für fremdes Leid sind. Gerade Freundschaften, in denen ich bei mir bleiben darf und ich nicht zu Mitgefühl verpflichtet bin, tun mir gut. Als Dank für die erfahrene Freiheit schenke ich gerne Zuneigung.

Wenn bei Frühlingsbeginn sich viele Menschen in meiner Umgebung hörbar besser fühlen, wird mir die Dunkelheit in meinen Augen besonders schmerzhaft bewusst. Ich werde nie mehr einen blühenden Kirschbaum, einen strahlend blauen Sommerhimmel oder das Gesicht meines Gegenübers sehen. Die bittere Einsicht in die Endgültigkeit meiner Erblindung stürzt mich für einige tage in tiefe Verzweiflung.

Wahrscheinlich lassen sich einschneidende Verluste nie wirklich verschmerzen. Es braucht lange, sich mit dem eigenen Unglück anzufreunden.

Nachdem ich meine Krankheit nicht mehr ignorieren konnte, spürte ich plötzlich Hass auf meine Augen. Sie machten mir das Lesen immer mehr zur Hölle. Dabei waren Bücher mein bevorzugter Rückzugsort in Krisen gewesen. Jetzt musste ich meinem Leid immer mehr in die Augen sehen. Heute, wo meine Augen verfallen, empfinde ich für sie ein tiefes Mitgefühl. Sie sind meine armen, leidgeplagten Kinder, denen ich leider viel zu wenig zu Hilfe kommen kann.

Gerhard

Gerhard lernte ich im Café PositHIV kennen. Er war beeindruckt, weil ich mich auch nach meiner Erblindung weiter in die schwule Szene wagte und nicht auf ein Sexleben verzichtete. Als ihm der unter AIDS-Kranken gefürchtete Herpes das Augenlicht raubte, rief er mich an. Ich kam aus meiner fränkischen Heimat angereist und tröstete ihn in der AIDS-Abteilung des Auguste-Viktoria-Klinikums. Als er in seine Wohnung in der Hornstraße zurückkehrte, machte ihm der Gedanke an einen Blindenhund sogar Spaß. Aber schnell holte ihn seine alte melancholische Grundstimmung wieder ein. Ich saß an seinem Bett und hörte denen zu, die ihm Mut machten. Anfangs fühlte Gerhard sich noch verpflichtet, auf solche Ermunterungen zu antworten. Dann wurde er immer einsilbiger und zog sich in sein Schneckenhaus zurück. Ich hielt seine Hand und diese schweigende Anteilnahme schien ihm gutzutun.

Draußen auf dem Balkon verdorrten die Dahlien und Astern, die er in wehmütiger Erinnerung an die Bauerngärten seiner Kindheit gepflanzt hatte.

            Alt wie ein Baum

            bist du nicht geworden, Gerhard.

            Irritierender Puddy-Song,

            der durch den Raum huschte,

            als Deine Seele endlich erlöst

            auf den sanften Wellen

            Deiner letzten Atemzüge davonschwamm.

            Geboren auf den kargen Höhen der Alb,

            wo in den Höhlen noch Kobolde hausen

            und unten im Tal die schöne Lau

            jeden, der über den Brunnenrand äugt,

            mitreißt in den Abgrund der Leidenschaften,

            trieb es Dich vom Bauernjungen

            zum Mann gereift

            in das Zwielicht der Städte,

            wo rausch und Einsamkeit innig sich paaren

            und dem Vergessen der Nacht

            so schnell die Ernüchterung folgt.

            Eingefangen hast Du uns alle

            mit dem Dir eigenen Liebreiz.

            Als Dich die Krankheit stumm und hilflos machte,

            saßen wir scheu und verlegen

            an Deinem Bett.

            Draußen auf dem Balkon

            verdorrten die Dahlien und Astern,

            die von den Bauerngärten

            Deiner Kindheit erzählten.

            alt wie ein Baum

            bist Du nicht geworden, Gerhard