Von der Sehnsucht nach Schmerz – oder warum sich eine S/M-Szene ohne großen gesellschaftlichen Widerstand etablieren konnte

 

Als vor dreißig Jahren Zitty die Kontaktspalte "Harte Seiten" einführte, löste das viele empörte Leserbriefe aus. Ihre Redakteure waren Teil jener bunten Subkultur, die nach dem Scheitern der politischen Revolte mit ihren Wohngemeinschaften, Kneipen und Projekten wie der "Tageszeitung" (TAZ) Westberlin zu einem besonderen Flair verhalf. Dominas, Meister oder Sklaven waren in dieser Szene nicht willkommen. Der TIP verhielt sich abwartend. Schließlich erlaubte man den "Profis", in ihren Sexanzeigen diese Neigungen anzusprechen. Bei den privaten Kleinanzeigen blieb S/M -angeblich aus Gründen des Jugendschutzes- weiter tabu. Heute sind solche Anzeigen auch in der auflagenstarken "Zweiten Hand" selbstverständlich.

Wann verlieren Tabus ihre Gültigkeit?

Als in den achtziger Jahren in Hamburg und Westberlin S/M-Gruppen öffentlich zu ihren Gesprächskreisen einluden, hatte sich auch der Markt der Entspannungstechniken neu orientiert.Nach dem Krieg feierte das "Autogene Training" triumphe. In zahllosen Volkshochshculkursen übten die Teilnehmer das Loslassen. "Ich lasse meine Hand, den Arm, meinen Kopf los!"Mit den Jahren setzte sich- ausgehend von den Kliniken, die auf meßbare und schnelle ergebnisse auswaren- die Methode nach Jacobson durch. Sie wendet sich nicht an das Vorstellungsvermögen, sondern verlangt, die (gespürte) Anspannung (etwa in der Hand oder im gesicht) ins Schmerzhafte zu steigern.Selbst im therapeuthischen Bereich ist inzwischen ein bißchen S/M hoffähig geworden.

Wie wir Welt wahrnehmen.

Das westliche Denken benutzt ganz selbstverständlich Gegensätze wie "Gut" oder bböse". Entsprechend diesem Entweder -Oder hatte die christliche Kirche jahrhundertelang die Lust verteufelt und im geduldig ertragenen Leid den Weg zur Erlösung gesehen. In der antiautoritären Bewegung lernten wir, Lust positiv zu sehen, und zu hoffen, möglichst schmerzfrei leben zu können.

Der ferne Osten neigt weniger dazu, die Welt in so schroffen Gegensätzen wahrzunehmen. Vielleicht, vweil er sich intensiver mit dem Körper beschäftigt hat. Von den dabei gewonnenen Erfahrungen erzählen Körperkulte wie Yoga, tai-chi oder Aikido, die auch wir aufgrund unseres Leibhungers gerne nutzen.

Anspannung und Entspannung stellen , auf körperlicher Ebene betrachtet, keine Gegensätze dar. Sie lassen sich angemessener als zwei Seiten eines Prozesses begreifen.Deshalb wirkt sich jede Einschränkung auch auf die andere Seite aus.Wer chronisch angespannt ist,wird auch in der Lust nicht wirklich loslassen können. Wer jede Anspannung vermeidet, schwächt damit auch sein lustvermögen. In der Anspannung wie im Schmerz zieht sich der Muskel zusammen. Von dieser Fähigkeit der Muskulatur hängt es ab, ob sich die sexuelle Erregung über den ganzen Körper ausbreiten und schließlich im Orgasmus zu einer tiefen Entspannung führen kann. Intensive Leidenschaft setzt die Fähigkeit, sich auch dem Leiden zu stellen, voraus.

men at work

Daß schwule Männer die lustauslösende Seite des Schmerzes schnell begriffen haben, ist sicher kein Zufall. Männer greifen, wenn sie unsicher sind, gerne zu Techniken. So lässt sich mit Hilfe des Tittentrimms sexuelle Erregung freisetzen. Bei ihm werden die Brustwarzen schmerzhaft stimuliert. Das alarmierte Gehirn des Gequälten antwortet mit einer verstärkten Blutzirkulation. Der Betroffene kann für Momente keinen klaren Gedanken fassen. Außerdem verführt die gesteigerte Blutzufuhr im Becken zu triebhaften Reaktionen.Beides macht rauschhaften Sex möglich.

Bereits mit ihrem outfit signalisieren die Gäste in diesem Sexmilieu ihre Bedürfnisse. Oft ist der Sklave am Halsband erkennbar. Sein Meister kämpft sich in Stiefeln, mit Handschellen und Peitsche durch die wartenden Sexsüchtigen. Keiner wagt im Alltag eine so freizügige Preisgabe seiner Sehnsüchte, weshalb das Ausloten von Bedürfnissen oft recht quälend verläuft.

Im darkroom geht es direkt zur Sache.Sobald sich der Meister an die Arbeit macht, hören wir seinen Sklaven stöhnen. Vielleicht möchte er damit seinem Peiniger eine Freude machen bzw.ihn von härterem Vorgehen abschrecken. Das "Opfer" ist so hilflos nicht und kann durchaus seinen "Täter" manipulieren. Dieser muß die Situation bestimmen und riskiert es, als einfallslos oder bieder entlarvt zu werden. Auch bei Sodom und Gomorra geht es nicht ohne Inszenierung ab.

Welche Sehnsucht bleibt unerfüllt?

Die Sommermonate 1980 erlebte ich in Christiania in Kopenhagen. Die Gebäude des vom dänischen Militär aufgegebenen Geländes hatten Freaks besetzt. An einem schwülen Nachmittag drängte mich Auf einem Klo ein junger Mann in eine offene Kabine. Er ließ seine Hose fallen, griff nach meinem T-Shirt und zerriß es. Dann biß er mich in die Brust. Ich schrie gellend. Mein Peiniger spritzte ab und machte sich aus dem Staub.Blut tropfte. Ich blieb sitzen, bis sich Herz und Atem wieder beruhigt hatten. Ich empfand ein tiefes Gefühl von Frieden, als wäre von meinem Körper eine schwere Last genommen worden.

Nach dieser Erfahrung ließ ich mich öfters auf qualvollen Sex ein. Gepeinigt gerate ich schneller in Ekstase. Aber ein innerer Vorbehalt blieb. Zu lange hatten wir in der Schwulenbewegung die Gewalttaten des Faschismus verabscheut. Was ist von dieser plötzlichen Sehnsucht nach Folter und Gewalt zu halten? In Westberlin hatten Männer "Quälgeist" gegründet.Im Kontrast zur anonymen Sexszene ist die Atmosphäre dort herzlich. Mit manchem, den ich in der Kneipe nicht angesprochen hätte, erlebte ich Geilen Sex. Warum Bedenken anmelden, da sich alle Gewalt in gegenseitigem Einvernehmen abspielt?

Inzwischen gibt auch dort eine neue Generation den Ton an. Einer aus dem Vorstand stellte die Organisation im Gesprächskreis "anders altern " vor. er kam aufgrund seiner Ausstrahlung gut an. Seine Leidenschaft gilt Bondage und er qualifiziert sich ständig weiter. Auch in der Kunst, zu würgen oder ohne Gefahr den Atem zu nehmen, kann man sich ausbilden lassen. Offensichtlich darf man in solchen Clubs immer mehr mit Fachpersonal rechnen.

All das hat der Kapitalismus möglich gemacht, dem wir einmal für alles schwule Elend verantwortlich gemacht haben. Schwule spielen in allen Sexvarianten trendsetters. Trotz oder vielleicht wegen dieser Freizügigkeit ist es nicht leichter geworden, seine Sehnsucht nach Liebe auszusprechen.