Von den Fehleinschätzungen der Schwulenbewegung – oder was wir damals alles nicht sehen wollten

 

Als ich in den achtziger Jahren in der "Homosexuellen Aktion Westberlin" engagiert war, spielten in unseren Diskussionen Geschlechtskrankheiten keine Rolle. Nach unserer Meinung waren es die kirchliche Sexualmoral und der Kapitalismus, die den Menschen die Freude an der Lust verdorben hatten.

 

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Wir wussten nicht, das sich in Europa im 16. Jahrhundert mit dem Ausbreiten der Syphilis die Einstellung zum sexuellen Vergnügen radikal verändert hat. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es auch in meiner fränkischen Heimat in jedem Dorf eine Badestube, wo sich im mit heißem Wasser gefüllten Zuber Männlein und Weiblein vergnügten. Trotz der Proteste der Pfaffen duldete die Obrigkeit das zügellose Treiben. Einmal bestand sie aus Männern, die diese Sexmöglichkeiten ebenfalls nutzten und zum anderen war die "Badsteuer" eine lukrative Einnahmequelle. Erst als die von der Syphilis gezeichneten Menschen nicht mehr zu übersehen waren, setzte ein Umdenken ein. Obwohl man den Erreger und die Übertragungswege noch nicht kannte, vermutete man mit Recht in den Badestuben einen wichtigen Infektionsherd. Sie wurden mit der Zeit geschlossen.

Wie die Lust "unheimlich" wurde

Die Syphilis verrät sich im Anfangsstadium durch ein kleines Geschwür, das nach wenigen Tagen wieder verschwindet. Besonders bedrohlich ist das dritte Stadium, in dem das Bakterium das Nervensystem angreift. Ist das Gehirn betroffen, wird der Infizierte (einer von ihnen war Friedrich Nietzsche) verrückt. Werden die Nervenzellen im Rückenmark zerstört, müssen die Kranken (wie Heinrich Heine oder E.T. A. Hofmann) aufgrund zunehmender Lähmungen ihre letzten Lebensjahre in einer "Matratzengruft" (H. Heine) verbringen.

Bereits diese wenigen Beispiele zeigen, dass der Krankheitsverlauf syphilitischer Männer über die Jahrhunderte ausführlich dokumentiert wurde. Die von der Infektion ebenfalls betroffenen Frauen kommen in der Literatur bis heute nicht vor. Ihre Angst, einen bereits infizierten Mann heiraten zu müssen, wagten die meisten Frauen nicht offen auszusprechen. Ihre nachwachsenden Töchter spürten die Furcht ihrer Mütter vor der Krankheit und übertrugen sie auf die Lust allgemein. Für immer mehr weibliche Generationen wurde der Geschlechtsverkehr zu einem Schicksal, dem die jungen Frauen mit einer Mischung aus Scheu und Schrecken entgegensahen. Diesen Einstellungswandel spiegelt eine im 19. Jahrhundert populär werdende Theorie. Nach ihr werden Frauen asexuell geboren und ihr sexuelles Verlangen muss vom Manne erst "wachgeküsst" werden.

Warum wir über solche Zusammenhänge nicht nachdachten

Ab September 1969 wurden in der Bundesrepublik homosexuelle Kontakte zwischen Männern über 21 Jahren strafrechtlich nicht mehr verfolgt. Damit war der berüchtigte Paragraph 175 zwar nicht wie in der DDR abgeschafft, aber seine Strafandrohungen waren abgemildert worden. Mit Blick auf diese bevorstehende Reform gab das öffentlich-rechtliche Fernsehen bei Rosa von Praunheim einen Film in Auftrag. Rosa mit seinem Gespür für Melodramatik ließ einen jungen Mann aus der Provinz in Westberlin sein schwules "coming out" erleben. Als sein Verliebt sein abklingt, entdeckt er in der Stadt die zahlreichen Orte wie Toiletten und Parks, wo Männer -meist wortlos- miteinander Sex machten. Gegen Ende des Films sehen wir ihn von einem dieser anonymen Treff zum anderen hetzen.

Das Drehbuch zum Film wurde in der heißesten Phase der Protestbewegung entwickelt. Angesteckt vom linken Fieber wollten die Filmemacher auch eine politische Botschaft vermitteln. Dieses Glaubensbekenntnis formulierte ein weiterer Frankfurter, Martin Danecker. Er wird Jahre später als Professor für Sexualwissenschaften Karriere machen. Seine linken Parolen wurden von der 3. Frankfurterin in diesem Trio, Lady Eschke, mit großem, trinigen Pathos vorgetragen.

Schon im Titel wollte man den Vorwurf, pervers zu sein, an die Gesellschaft zurückgeben. "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt." Die im Film geäußerten Kommentare behaupteten, dass die gesellschaftliche Diskriminierung im Kapitalismus die Homosexuellen zu ihrem promiskuiten Treiben verurteile und ein normales Liebesleben ihnen deshalb nicht möglich sei.

Trifft diese Interpretation zu?

Auch in den fünfziger Jahren kämpfte eine Schwulenbewegung im Untergrund für eine Anerkennung homosexueller Lebensweisen. Ihre Wortführer waren meist überzeugte Antikommunisten. Sie verwiesen auf die harte Strafverfolgung in den Ländern des Ostblocks. Nach dem Strafgesetzbuch der Sowjetunion konnte homosexuelles Verhalten sogar mit dem Tod bestraft werden. Diese Strafandrohung wurde nach dem 2. Weltkrieg nicht mehr angewandt, aber auch nicht abgeschafft.

Aufgrund so unterschiedlicher Sichtweisen gab es zwischen alter und neuer Schwulenbewegung kaum Kontakte. Wir linken Schwulen wollten von einer Unterdrückungsgeschichte im Sozialismus nichts wissen. Auch interessierte sich noch keiner für die in vielen linken Strömungen anzutreffende Homophobie. In unserer Revolutionsbegeisterung schwiegen wir sogar, als auf Fidel Castros Kuba Homosexuelle in ein Konzentrationslager gesteckt wurden.

Angeregt durch die Fernsehsendung "Holocaust" hatten einige Autoren von einen im 3. Reich geplanten "Homocaust" gesprochen. Unterschlagen wurde, dass in der Frühzeit der faschistischen Bewegung Homosexuelle in führenden Positionen nicht unwesentlich zu ihrem Erfolg beigetragen haben.

Wir konzentrierten uns auf Homosexuelle als Opfer und waren mit dieser Agitation erfolgreich. Der Senat von Westberlin fühlte sich zur "Wiedergutmachung" verpflichtet und schuf ein Referat für gleichgeschlechtliche Lebensweisen. Jetzt lockten plötzlich Stellen und manches bisher ehrenamtlich betriebene schwule Projekt wurde finanziell unterstützt. So mancher aus der Schwulenbewegung konnte sein Engagement bezahlt fortsetzen.

Während ein Teil der Schwulenbewegten als Funktionäre weitermachen konnte, nutzte die schwule Szene die neue Liberalität auf ihre Weise. Immer dreister wurden öffentliche Räume wie Parks oder Toiletten zu Sextreffs umfunktioniert. Bald waren in Westberlin Toiletten, wo die Pissrinne nicht von Schwulen blockiert wurde oder die Wände der Kabinen nicht durchlöchert waren, selten. Selbst an den Universitäten gab es immer mehr Möglichkeiten zu anonymen Sex. Auch gebildete Homosexuelle fanden diese Variante der Lust recht prickelnd.

Als dieses Treiben von den zuständigen Stellen nicht mehr ignoriert werden konnte, wurden Gegenmaßnahmen ergriffen. Buschanlagen, aber auch Schonungen im Grunewald wurden durchlichtet. Durch das Einbauen von Betonwänden hoffte man, den Sexverkehr zwischen den Kabinen verhindern zu können. Doch so mancher Schwule schreckte nicht davor zurück, mit dem Pressluftbohrer anzurücken. Über drei Jahrzehnte zog sich diese Auseinandersetzung hin und kostete die öffentliche Hand Millionen. Sie führte schließlich zur weitgehenden Abschaffung der öffentlichen Toilette.

Die Schwulenfunktionäre bezogen in diesem Kampf keine Stellung. Es war ihnen zu peinlich, öffentlich für ein recht auf anonymen Sex einzutreten. Zu sehr hing man an der lieb gewonnenen Vorstellung, die gesellschaftliche Diskriminierung hindere die Schwulen an liebevolleren Umgangsformen.

Sehr viel realistischer registrierten die schwulen Kneipenwirte das vorhandene Bedürfnis. Sie antworteten mit der Kneipe mit "darkroom".

AIDS und der befürchtete Rückschlag

Schwule konnten die mit der Liberalisierung der Lust verbundenen Möglichkeiten erfolgreicher nutzen als Heteromänner. Für viele Sexvarianten, die man im Schwulenmilieu genießen kann, müssen Heteromänner aus Mangel an freiwilligen Spielgefährtinnen Geld zahlen.

Erst das Auftreten von Aids stellte diesen Trend infrage. Mit den schrecklichen Bildern infizierter Männer rückten auch ihre anonymen Begegnungsorte in den Brennpunkt öffentlichen Interesses. das dort übliche promiskuite Treiben provozierte Ablehnung und einige sahen in Aids eine Geißel Gottes für dieses Sodom und Gomorrah. Doch gelang es einer liberalen Öffentlichkeit, diese aufflackernden Aversionen einzudämmen und Mitgefühl für die Erkrankten zu mobilisieren. Noch einmal entstanden neue Projekte und Stellen, die vielen Infizierten und anderen Schwulen eine berufliche Existenz sicherten.

Über die Zwiespältigkeit männlichen Begehrens, die sich nicht allein aus der schwulen Veranlagung erklären lässt, wird weiter wenig diskutiert. Aber auch die Erfahrungen, die Schwule in diesen Jahrzehnten exzessiven Begehrens machen konnten, werden von den nachgewachsenen Generationen selten abgefragt.

siehe auch Florian, die Geschichte eines (fast) zerbrochenen Herzens