Von der Angst, zu kurz zu kommen - und wie die unsicher werdenden Arbeitsplätze den Fremdenhass schüren
Vor kurzem musste ich wegen einer Bescheinigung das Auguste-Viktoria-Klinikum aufsuchen. Da ich blind bin, half mir ein Arbeiter. Er und seine Kollegen waren beschäftigt, den Hauptweg zu säubern. Die Aids-Station feierte ihr fünfundzwanzigjähriges Jubiläum und der Regierende Bürgermeister wurde erwartet.
Mein Begleiter berlinerte und wir wurden schnell warm. Er ist in Friedenau zuhause. Da ich dort Freunde in bester Wohnlage kenne, lobte ich das schöne Viertel. Aber damit war ich voll ins Fettnäpfchen getreten. Mein Friedenauer schilderte ein schreckliches Klein-Anatolien. "Aber das darf man nicht aussprechen, ohne sofort als Rassist beschimpft zu werden!", meinte er salbungsvoll. Auch auf den Regierenden Bürgermeister war er nicht gut zu sprechen. Schließlich grollte er: "Es ist eine Schande, täglich acht Stunden arbeiten zu müssen und trotzdem noch auf Hartz-4 angewiesen zu sein." Nach so viel geballtem Unmut war ich erleichtert, dass wir das Verwaltungsgebäude erreicht hatten.
Von der Macht der Ressentiments
Ressentiments sind starke Gefühle, die unseren Blick bestimmen. Auch mich hat einmal der Party-Gänger Wowereit beschäftigt. Ist man dem Amt des Regierenden Bürgermeisters wirklich gewachsen, wenn man ganze Nächte durchfeiert? Freunde, die Wowereit kennen, nennen ihn ein Arbeitstier. Wahrscheinlich hilft ihm sein Party-Vergnügen mit dem Übermaß an Verantwortung besser zurechtzukommen. Als Schwuler bringe ich ihm sicher mehr Verständnis entgegen als mein Begleiter, der ihn vielleicht wegen seines Schwul seins ablehnt.
Seine Kritik an den schlechter werdenden Arbeitsverhältnissen kann ich gut verstehen. Im Verwaltungsgebäude war er den dortigen Frauen als "Gärtner" bekannt. Vielleicht hat er in diesem Beruf im AVK gearbeitet und wird inzwischen als Hilfsarbeiter ausgeliehen. Schon um die wachsenden Arzthonorare zu schultern, wurden in allen Krankenhäusern die anderen Personalbereiche ausgedünnt. Einer meiner Bekannten wird von seiner Zeitarbeits-Firma ab und zu auf eine Station im AVK geschickt. Er bekommt für seine Arbeit ca. dreißig Prozent weniger Lohn als die Festangestellten. Weil viele von ihnen fürchten, sich demnächst selbst auf dem freien Markt behaupten zu müssen, löst er immer sehr gemischte Gefühle aus.
Warum aber dieser hasserfüllte Blick auf die Zugewanderten?
Ich schätze meinen Friedenauer auf Mitte Fünfzig. Dann ist er in den ersten Wohlstandsjahrzehnten aufgewachsen. Keiner kam damals auf die Idee, dass sich die Verhältnisse wieder verschlechtern könnten. Seit über zwanzig Jahren muss er mit seinem sozialen Abstieg zurechtkommen. Davor schützt ihn weder sein gelernter Beruf, noch sein Status als Deutscher. In seinen Illusionen wird er von der Politik bestärkt, die bei jeder Wachstumsrate einen sicheren Wohlstand verspricht. Aber sein Konto belehrt ihn drastisch, dass er sich immer weniger leisten kann und darf.
Ganz anders nehmen viele türkische Zuwanderer die Situation wahr. Manche der Frauen waren in den sechziger Jahren von Siemens angeworben worden. Die gelernten Friseusen waren in den feinmechanischen Abteilungen wegen ihrer Fingerfertigkeit besonders gefragt. Oft brachten sie ihre Männer mit, die noch Analphabeten waren. Aber auch für sie fand sich damals Arbeit. Im Sommer machten sich diese Familien mit einem vollgepackten Auto und einer wachsenden Zahl von Kindern auf den (tagelangen) Weg in die alte Heimat. Gemessen an der dortigen Armut war ihr Einkommen beträchtlich. Sie konnten sich mit den Jahren in ihrem Dorf ein Haus bauen oder eine KFZ-Werkstatt einrichten, die einmal einer ihrer Söhne übernehmen sollte. Trotz solcher Investitionen wuchs mit den Jahrzehnten die Bindung an die neue Heimat. Besonders ihre Kinder, die hier aufwuchsen, schätzten das Ausmaß an Freiheit, das es so in der ländlichen Türkei noch nicht gibt. Gemessen am Einkommen und an den Bildungschancen sind diese Familien benachteiligt, vergleicht man sie mit deutschen Arbeiterfamilien. Aber in Umfragen äußern sie eine weitaus höhere Zufriedenheit mit ihrer Lebenssituation. Das ärgert besonders die, die immer mehr das Gefühl haben, zu kurz zu kommen.
Der Fremde als Hassobjekt
Sicher kennt auch mein Friedenauer manchen Türken, mit dem er gut auskommt. Hassbilder beruhen selten auf Erfahrungen. Sie eignen sich als Ventil, angestauten Unmut los zu werden. Deshalb lassen sich ihre Vertreter selten durch Argumente zur Vernunft bringen. Ihre Kritiker tragen nicht unwesentlich dazu bei, dass der Streit eskaliert. Der andere wird als Rassist, Faschist usw. entlarvt und in seinem Empfinden nicht ernst genommen. Beiden Seiten erlaubt ihr Hochmut, in der Auseinandersetzung zu verrohen. Es geht ihnen immer weniger um konkrete Menschen als um ihren Blick auf die Welt. Die Gesellschaft wird in gute und böse Menschen unterteilt. Eine heile Welt wird versprochen, wenn es die als bös eingestufte Seite nicht mehr geben wird. Es liegt an uns, ob wir uns von den Eiferern mitreißen lassen oder einen kühlen Kopf bewahren.
Dany