Vor siebzig Jahren machte meine Mutter in Stuttgart ihre Ausbildung zur Kindergärtnerin. Damals träumten in der Stadt viele von einem unterirdischen Bahnhof. Man hatte sich noch immer nicht an den Kahlschlag gewöhnt, für den der Eisenbahnbau im ehemals beschaulichen Neckartal gesorgt hatte.
Die diese Baumaßnahme gegen großen Widerstand durchgesetzt hatten, fühlten sich durch den Erfolg im Recht. Tausende aus dem umgebenden "Armenhaus" der Schwäbischen Alb hatten hier inzwischen Arbeit gefunden. Auch der Aufstieg von Unternehmen wie "Mercedes-Benz" oder "Robert Bosch" sprach für diese Infrastrukturmaßnahme. Sicher wären diese Unternehmen genauso erfolgreich gewesen, wäre der Eisenbahnanschluss bescheidener ausgefallen.
Der eingetretene Wandel
Über mehrere Generationen konnten sich die Stuttgarter an ihren Bahnhof gewöhnen. Nicht wenige haben ihn inzwischen liebgewonnen. Der euphorische Glaube an den Fortschritt musste allmählich einer wachsenden Skepsis Platz machen. Nicht zuletzt Mercedes-Benz hat in den letzten Jahrzehnten zu dieser Ernüchterung beigetragen. Ezrat Reuter wollte dem Unternehmen durch die Erweiterung der Produktion auf mehrere Sparten eine Zukunft sichern. Als er mit diesem Modernisierungsversuch scheiterte, bekam Jürgen Schremm mit seinem Traum vom weltweit größten Autokonzern eine Chance. Der Manager, der bei Mercedes Schlosser gelernt und es bis an die Spitze geschafft hatte, genoss bei der Belegschaft besonders großes Vertrauen. Aber auch er musste abtreten. Offenbar sind die Zeiten der großen Entwürfe vorbei und selbst Konzerne müssen bescheidenere Brötchen backen.
Diesen Stimmungsumschwung spüren auch die Initiatoren von "Stuttgart 21". Wenn sie jetzt nicht für vollendete Tatsachen sorgen, können sie ihr Projekt beerdigen.
Die berechtigten Einwände
Die Kritiker verfügen über einige gute Argumente. Müssen wirklich Milliarden investiert werden, um zwanzig Minuten früher in Ulm anzukommen? Zurzeit können die Älteren die Landschaft genießen und die Geschäftigeren auf ihrem lab top arbeiten. Wenn Schulen nicht mehr saniert werden können und Schwimmbäder aus Kostengründen geschlossen werden müssen, darf man nicht weiter so großspurig planen und wirtschaften. Mehr Bescheidenheit ist angesagt und nicht weiter die Flucht in den Größenwahn. Das ahnen auch die Schwaben, die alles andere als Barrikadenstürmer sind.
Auch die Zweifel an der Kostenberechnung sind berechtigt. In Leipzig, wo ebenfalls die Untertunnelung der Stadt beschlossen wurde, hat das erste Drittel der Strecke bereits die Summe gekostet, die für das ganze Projekt veranschlagt worden war. Es geht einfach nicht mehr, dass Politiker ihren Nachfolgern Schulden in diesen Größenordnungen hinterlassen. Mit der wachsenden Schuldenlast wird der politische Handlungsspielraum künftiger Generationen immer mehr eingeschränkt.
Auch das Versprechen neuer Arbeitsplätze hat sich oft als haltlos erwiesen. Solche überdimensionalen Baumaßnahmen werden inzwischen von hochkomplexen Maschinen und wenigen Ingenieuren und Arbeitern durchgeführt.
Das Dilemma der Parteien
Die Auseinandersetzung um "Stuttgart 21"ist besonders für die CDU bedrohlich. Es sind nicht nur einige grüne Fanatiker und linksradikale Maschinenstürmer, die gegen das Projekt Sturm machen. Es sind nicht wenige der eigenen Wähler, die diesen von oben verordneten Fortschritt nicht mehr mit verantworten wollen.
Die SPD hat sich schon immer schwer getan, wenn neue Arbeitsplätze versprochen wurden. Darf man sich als Partei der Arbeit dem Fortschritt in den Weg stellen und mögliche Investitionen verhindern?
Die FDP leidet, weil ihr kaum noch wirtschaftliche Kompetenz zugetraut wird. Seit ihre Führungsspitze und ihr Wirtschaftsminister nicht mehr als einige griffige Parolen zu bieten haben, erscheint dieser Vertrauensschwund durchaus berechtigt.
Die Grünen profitieren von dem Verfall der traditionellen Parteienlandschaft. Immer mehr Menschen, die sich in prekären Arbeitsverhältnissen behaupten müssen und sich wehmütig an Gestern erinnern, fühlen sich durch die Konservativen mit ihrer Modernisierungssucht nicht mehr geschützt. SPD und "Die Linke" werden viel Überzeugungsarbeit leisten müssen, um als Anwalt des Sozialen wahrgenommen zu werden.
Eine spannende Auseinandersetzung
Solange noch nicht mit der Untertunnelung im Schlossgarten begonnen wurde, ist der Ausgang dieses Streites offen. Immer mehr Menschen in der Stadt wird bewusst, wie sehr ihre Lebensqualität unter den wachsenden Baumaßnahmen leiden wird. Den traditionellen Parteien im Stuttgarter Raum ist bei dem Blick auf die nächste Landtagswahl angst und bange. Den Grünen könnte zumindest hier der Aufstieg zur Volkspartei gelingen.
Werden die beteiligten Unternehmen nicht auf den bereits abgeschlossenen Verträgen beharren und, wenn der Protest anhält, bei der Durchführung polizeilichen Schutz einfordern? Wie lange werden eine Demokratie und vor allem die friedfertigen Schwaben einen solchen Ausnahmezustand hinnehmen?
Vielleicht hätten die Gegner noch mehr Chancen, wenn sie mit alternativen Baumaßnahmen werben könnten. Denn die jetzige Eisenbahnschneise im Neckartal hat der Landschaft wirklich schwer geschadet. Warum nicht diese Zerstörung durch "grüne Brücken" oder andere Baumaßnahmen wenigstens partiell rückgängig machen?
Eine solche Utopie zu konkretisieren, würde die Fantasie und den Einsatz vieler herausfordern. Ihre Realisierung würde sicher mehr menschliche Arbeitsplätze schaffen als "Stuttgart 21".
Daniel Schneider