Hermann Hesse „Julikinder“ oder „Traumbeladene Erinnerungen“

Hermann-Hesse.jpgUnter uns Gymnasiasten (ich wurde 1944 geboren) gehörte es zum guten Ton über Hermann Hesse zu lästern. Auch um unsere warmherzigen Deutschlehrerinnen zu ärgern. Ich las damals begeistert Heinrich Böll und Max Frisch. Meine Politisierung verdanke ich Autoren wie Bertold Brecht, Peter Weiss oder Hans Magnus Enzensberger. Heute verstehe ich besser, warum zur gleichen Zeit amerikanische Hippies Hesse für sich entdeckten. Besonders in seinem Roman "Der Steppenwolf" fanden sie sich mit ihrer Sehnsucht nach einem rebellischen Leben wieder.

 Julikinder

Wir Kinder im Juli geboren

 Lieben den Duft des weißen Jasmin.

 Wir wandern an blühenden Gärten hin

Still und in schwere Träume verloren

Unser Bruder ist der scharlachene Mohn.

Der brennt in flackernen, roten Schauern

Im Ährenfeld und auf den heißen Mauern.

Dann treibt seine Blätter der Wind davon.

Wie eine Julinacht will unser Leben

Traumbeladen seinen Reigen vollenden.

Träumend und heißen Erntefesten ergeben

Kränze von Ähren und rotem Mohn in den Händen.

Kindertage

Die Beschwörung von Mohn und Jasmin weckt bei mir Erinnerungen an das Fronleichnamsfest. Es wird in der Katholischen Kirche zehn Tage nach Pfingsten gefeiert. Meist war noch etwas von der Aufbruchstimmung des Frühlings spürbar, während sich schon die Ruhe des Sommers ankündigte. Am Vortag sammelten wir Pfadfinder waschkörbeweise Blüten für unseren Blumenteppich. Kornblumen und roten Mohn fanden wir an den Rändern der Getreidefelder. Auf manchem Acker blühte gelber raps. In den Wiesen pflückten wir die leuchtend weißen Blüten der Margariten. Den kleinen Blüten der Lupinen, die in Stauden an den Rändern der Waldwege wucherten, verdankten wir violette Töne.

 Mit diesen Farben gestalteten wir unseren vielbewunderten Blumenteppich. Er gehörte zum Schmuck des Marienaltars am Altrathausplatz. Hier spendete unser Stadtpfarrer mit der Großen, schweren Monstranz noch einmal den Segen. Dann ging es unter dem Geläut aller Glocken zurück in die Georgskirche. Mit dem begeistert gesungenem "großer Gott wir loben Dich!" klang das kirchliche Hochfest aus.

Viele Häuser waren an diesem Tag mit Birken geschmückt. Ihr zartes Grün, der Duft des Weihrauchs, meist ein strahlend blauer Himmel, die Gebete und Lieder der Gläubigen: all das fügt sich zu einem Bild zusammen, das mir noch heute in lebendiger Erinnerung ist.

Ein Fest für Leib und Seele

Nach der Prozession versammelte sich die Müller-Verwandtschaft im garten der Urgroßeltern. Auch die Stuttgarter besuchten an diesem Tag ihre alte Heimat. Wie jedes Jahr sorgten die Stöckelschuhe von Tante Isa und ihren drei Töchtern für Aufregung. Sie fielen wieder ein paar Zentimeter spitzer und extravaganter aus. Nicht nur für meine blinde Mutter war es ein Rätsel, wie sie mit diesen "Folterwerkzeugen" das bucklige Kopfsteinpflaster in unserer Stadt meistern konnten. Einen Kniefall beim Segen durften sie nicht riskieren. Deshalb bezeugten unsere elegant gekleideten Damen dem allerheiligsten Sakrament des Altares ihre Ehrfurcht, indem sie ihren Oberkörper weit nach vorne streckten und sich besonders gewissenhaft bekreuzigten.

Auch diesen Garten kann ich vor meinem inneren Auge hervorzaubern. An der Hecke zum Nachbarn blühten Jasmin und violetter Flieder. Für einen unbeschreiblich süßen Duft sorgte ein Meer kleiner weißer Nelken. Getafelt wurde unter zwei blühenden Pflaumenbäumen.

Nach der Prozession gab es mit viel Petersilie gewürzte Weißwürste. Sie wurden nur für diesem Tag in den Metzgereien hergestellt. Wir Kinder freuten uns vor allem auf die Araberschnitten aus der Konditorei Bayer. Eine Köstlichkeit aus Stachelbeerkompott Mandelcreme , zuckersüßem Eischnee und leckerer Sahne. Mein Vater machte verkleidet und mit einem Schrubber in der Hand seine Späße. Das freute uns Kinder, provozierte aber auch mahnende Worte meiner Mutter.

Eine verblassende Wirklichkeit

Die Fronleichnamsprozession gibt es noch immer. Aber sie ist nur noch ein Event unter vielen, die im Laufe eines Jahres in der Stadt angeboten werden. Das Sammeln für den Blütenteppich ist schwierig geworden. Seit die im Stall anfallende Gülle direkt auf Wiesen und Äcker verteilt wird, sind Blumen und Kräuter verschwunden. Nur dem zähen Löwenzahn gelingt es, dieser permanenten Stickstoffüberdüngung zu trotzen. Aus dem Saatgut der Getreidearten werden Kornblumen und Mohn herausgefiltert. Manchmal überrascht auf einer vergessenen Schutthalde ein Teppich aus scharlachfarbenem Feuerrot.

Dass diese Veränderungen in der Natur kaum registriert wurden, lag an den neuen Verheißungen. Mit Spannung erwarteten wir jedes Jahr das Weihnachtspaket aus Stuttgart. Tante Isa, die inzwischen im Kaufhaus Breuninger füllige Damen mit viel Feingefühl modisch beriet, überraschte immer mit etwas besonders Ausgefallenem. Dann konnten auch wir in der Provinz dank der Kataloge von Quelle und Neckermann uns ein Bild von der Aufblühenden Wohlstandswelt machen. Durch die Stuttgarter waren wir auf dem Laufenden. Sie hatten Lido di Jesolo entdeckt und kamen von dort schockobraun gebrannt zurück. Im Gepäck einen ganzen Koffer voll mit italienischen Schuhen, die auf den Märkten spottbillig zu bekommen waren.

Wie die sinkenden Besucherzahlen deutlich machten, verloren die Kirchen an Bannkraft. Selbst ich, der einst ein so frommer Junge gewesen war, entflammte für neue, weltliche Mythen. Erst jetzt im Alter kommen mir jene frühen Jahre wie ein untergegangenes Paradies vor. -Die verschwundenen Blumen und Kräuter verraten, dass wir durch diese Wohlstandsjahrzehnte auch ärmer geworden sind.