Der Vorteil am Sehen ist, dass man nicht so genau hinsehen muss. Diese überraschende Ein-Sicht machte ich als Blinder. Viele Wege, die ich aus meiner Zeit als Sehender zu kennen glaubte, erwiesen sich plötzlich als fremd und unbekannt. Zu viele Ecken und Kanten, auf die mich nun mein Blindenstock verwies, hatte ich einfach über-sehen. Sehend genügte mir ein Über-Blick und ich konnte mich problemlos der Welt meiner Gedanken überlassen.
Das (informative) Hindernis
Meine Erblindung zwang mich zu einer mir bisher fremden Gewissenhaftigkeit. Ich war zwar nie ein Chaot gewesen. Aber erst jetzt konnte ich es mir nach der Rückkehr von einem Einkauf nicht mehr erlauben, Geldbeutel oder Wohnungsschlüssel „irgendwo abzulegen". Jede dieser Nachlässigkeiten musste ich mit einem angestrengten Suchen bezahlen.
Jeder Sehende kann es sich erlauben, die Türen halboffen stehen zu lassen. Ich muss einen solchen Leichtsinn jedes Mal mit einer schmerzhaften Schramme an der Stirn bezahlen. Fällt mir ein Topflappen herunter, ist überlegtes Handeln angesagt. Bücke ich mich zu spontan, dann belehrt mich vielleicht ein schmerzhafter Stoss oberhalb des Knöchels, dass ich die Backofentür bereits geöffnet hatte.
Eine mir bisher vertraute Welt erwies sich plötzlich voller Hindernisse. Ich lernte mein Zuhause neu zu „sehen".
Der Preis: eine (chronische) An-Spannung
Mein Leben ist anstrengender geworden und jedem Blinden ist diese „strenge" mit der Zeit auch anzusehen. Das Über-Maß an Konzentration hat meine Körperhaltung verändert. Draußen unterwegs bin ich in Gedanken bei der Spitze meines Blindenstockes, um frühzeitig auf ein Hindernis reagieren zu können. Ich kann meinen Blick nicht mehr „schweifen" lassen. Meine „toten" Augen gleiten nicht mehr über die mich umgebende Umwelt. Es fühlt sich entspannter an, die Augen geschlossen zu halten.
So verschlossen ermuntere ich mein Gegenüber nicht unbedingt zu spontanen Verhalten. Auch er nimmt sich zurück. Deshalb ist der Umgang mit einem Blinden auch für den Sehenden anstrengend. Dieses Mehr an Arbeit verführt manchen dazu, sich öfters einmal „unsichtbar" zu machen. Bekomme ich das unterwegs oder auf einer Veranstaltung zufällig mit, fühle ich mich in meiner Achtung mit Recht verletzt.
Eine (unerwartete) Belohnung: die Nach-Sicht
Auch mir Blinden vermittelt mein innerer Blick Weit-Sicht und Um-Sicht. Den Verlust an Außenorientierung muss ich durch eine komplexere Innenwelt ausgleichen. Jede Form von Kurz-Sichtigkeit, die ein Sehender schnell korrigieren kann, kostet mich zusätzliche Anstrengung. Ohne eine innere Sicherheit wäre ich in meinen Gedanken nur noch mit meinem Alltag beschäftigt.
Mein neues Leben wird mit einem seltsamen Geschenk belohnt: der Nach-Sicht. Im Umgang mit anderen wurde ich mit der Zeit nachsichtiger und gütiger. Sind Gäste in der Wohnung, muss ich halt mit halbgeöffneten Türen rechnen.
Gerade als Kopfmensch hatte ich mein Leben bisher anders bewältigt. Ich war gewohnt, allem und jedem eine Bedeutung zu geben. Seitdem ich mich in meinem Urteil zurücknehme und neu-gieriger geworden bin, erlebe ich das Leben oft farbiger und facettenreicher.
So manchem Stolz und Übermut von früher kann und will ich mir jetzt nicht mehr leisten. Aufgrund dieser recht schmerzhaft eingeübten Bescheidenheit verstehe ich jetzt die alte Weisheit besser:
„Die Nachsicht ist die Mutter im Zusammenleben und hilft uns, seelisch zu reifen."