Muttersöhnchen Hitler

 

Das Waldviertel, zwischen Donau und böhmischer Grenze gelegen, ist im 19. Jahrhundert eines der Armenhäuser des Habsburger Kaiserreiches. Die Beweglicheren wandern ab. Den Zurückgebliebenen unterstellt man Hinterwäldlertum und Inzucht.

 

hitlerAm 7. Juni 1837 bringt die einundvierzigjährige ledige Maria Anna Schicklgruber einen Jungen zur Welt. Als Magd hatte sie zuletzt im Haushalt des Juden Frankenberger in Graz gedient. Fünf Jahre später heiratet sie den arbeitslosen Müllergesellen Johann Georg Hietler. Sein Bruder nimmt den kleinen Alois zu sich. Bitter arm, schlafen die Hietlers in einem Schweinetrog. Alois Mutter stirbt sechs Jahre später an Auszehrung und Brustwassersucht.

Ihrem Jungen gelingt eine erstaunliche Karriere. Er lernt Schuhmacher. Dann nützt er das Angebot, zum Zoll überzuwechseln und schafft hier den höchsten Rang, der ihm aufgrund seiner Vorbildung offensteht. Als der Vierzigjährige zum Oberoffizial ernannt wird, besteht sein stolzer Ziehvater auf einer Namensänderung. Er erscheint mit drei Zeugen beim Pfarrer. Diese bestätigen mit zwei Kreuzen die Aussage, dass sein verstorbener Bruder Alois rechtmäßiger Vater sei. Der überrumpelte Pfarrer streicht den Eintrag "unehelich". Beim Schreiben des neuen Namens unter­läuft ihm ein Fehler.  Aus "Hietler" macht er "Hitler".

1930 versucht ein Stiefbruder, Adolf Hitler zu erpressen mit Hinweis auf den Juden Frankenberger. Hans Frank soll Hitlers Ahnenreihe klären. Er findet heraus, dass die jüdische Familie ihre ehemalige Magd jahrelang finanziell unterstützt hat. Die heutige Forschung bezweifelt, dass der Neunzehnjährige als Vater in Frage kommt. Adolf Hitler verlangte von allen Deutschen einen Ahnenpass. Nicht selten entschied er über Tod oder Leben. Er selbst war nicht in der Lage, seinen Großvater anzugeben. Aus Groll über seine dunkle Herkunft machte er sofort nach dem Anschluss Österreichs aus der Heimat seiner Vorfahren einen Truppenübungsplatz. Panzer zerstörten das Geburtshaus des ungeliebten Vaters, rollten über  das Grab der Großmutter. So versuchte er, Erinnerungen auszulöschen, die nicht in sein Selbstbild passten.

Ein düsteres Familienleben

Der Vater hat eine dunkle, triebhafte Seite. Vierzigjährig heiratet er eine vierzehn Jahre ältere Frau. Ihre Mitgift ist beachtlich. Im Haushalt hilft ein sechzehnjähriges Mädchen. Klara hat sanfte Gesichtszüge, blaue Augen und dunkelbraunes, fast schwarzes Haar. Sie kennt "Onkel Alois" seit Kindertagen. Er ist mit ihrer Mutter, Johanna Hietler, aufgewachsen. Der späte Ehe­mann verliebt sich in die neunzehnjährige Fanny. Sie ist Kellnerin in der Wirtschaft unterhalb der Wohnung. Als sie schwanger wird, lässt sich Alois' Ehefrau scheiden. Fanny zieht ein und heiratet ihren Verführer. Sie fürchtet seine Seitensprünge. Deshalb muss Klara den Haushalt verlassen. Nach der zweiten Geburt erkrankt Fanny. Die erschöpfte Frau soll in der frischen Luft eines Bauernhofes wieder zu Kräften kommen. Der mit Alois und Angela zurückgelassene Vater holt sich Klara zur Hilfe. Fanny stirbt. Noch im Trauerjahr ist Klara bereits schwanger. Die Kirche verweigert die Trauung. Laut Stammbaum sind die Beiden zu eng verwandt. Als Rom endlich einer Heirat zustimmt, ist bereits das zweite Kind unterwegs. Nach Gustav folgt Ida. Als Klara im neunten Monat ist, holt sich Gustav eine schwere Erkältung. So sieht es die Mutter. Keiner ahnt, dass er an Diphterie erkrankt ist. Der Neugeborene, der auf Otto getauft wurde, stirbt nach drei Tagen. Ihm folgen Ida, dann Gustav. Innerhalb von vier Wochen hat Klara den Verlust ihrer drei Kinder zu beklagen. Mit Trost kann sie nicht rechnen. Alois' Herz schlägt nur für seine Bienenzucht.

Am 20. April 1889 wird in Braunau am Inn ein Junge geboren. Er erhält den Namen "Adolf". Ihn will die Mutter auf keinen Fall verlieren. Sie verhätschelt ihn. Alois und Angela aus der ersten Ehe des Vaters und die nachgeborene Schwester Paula sehen es mit Groll. Der Vater tyrannisiert alle. Jeden Tag tobt er seine Wut an den beiden Jungen aus. Als er einmal mit seiner Nil­pferd­peitsche besinnungslos auf den dreijährigen Adolf einschlägt, wirft sich die neunjährige Angela dazwischen. Die Mutter verfolgt mit Tränen in den Augen diese Züchtigungen, wagt aber nicht, einzugreifen. Auch sie wird ab und zu geschlagen. Sobald Adolf die Schule besucht, kommt er immer erst spät nach Hause. Bevor er verprügelt wird, möchte er zumindest ein bisschen spielen. Er ist kein schlechter Schüler. Einmal schlägt der Vater so brutal zu, dass Adolf das Bewusstsein verliert. Der Vater glaubt, ihn erschlagen zu haben. Sein Erschrecken hält nur kurz an. Am nächsten Tag wird weitergeprügelt. Der vierzehnjährige Alois flüchtet. Als der Vater nach vierzig Dienst­jahren in Pension geht, geht es noch schlimmer zu. Den ganzen Tag gellen seine Kommandorufe durch das Haus. Erst am späten Nachmittag kehrt ein wenig Ruhe ein. Der Vater sitzt mit seinen Freunden beim Dämmerschoppen. Sie trinken ihren Heurigen und singen Vaterlandslieder. Am Sonntag muss Adolf den Vater vom Frühschoppen abholen. Bleich und verängstigt wartet er in der verräucherten Wirtsstube. Endlich erhebt sich der schwer Angetrunkene. Es wird ein Heimweg mit Hindernissen. Der Vater lässt den kleinen Jungen seine Wut spüren.

In "Mein Kampf" schildert Adolf den Vater als Trunkenbold, den er "in Szenen grässlicher Scham aus stinkenden, rauchigen Kneipen" nach Hause gezerrt habe.

Alle sind erleichtert, als der Fünfundsechzigjährige am 3. Januar 1903 stirbt, im Wirtshaus beim Dämmerschoppen. Der herbeigerufene Arzt kann nur noch "Herzversagen infolge von Blut­hoch­druck" diagnostizieren. Adolf macht das Saufen und Rauchen für seinen frühen Tod verantwortlich. Er wird ein Leben lang gegen Alkohol und Nikotin wettern. Die Linzer "Tagespost" schreibt in ihrem Nachruf: "Fiel auch ab und zu ein schroffes Wort aus seinem Munde, unter einer rauhen Hülle barg sich ein gutes Herz."

Auf dem Weg zum Tagträumer

Die Mutter verkauft das kleine Haus in Leonding. Sie bringt das Geld auf die Sparkasse. Aber die Zinsen reichen nicht einmal aus, die Miete der neuen Zweizimmerwohnung in Linz zu bezahlen. Die Mutter verdient sich ein Zubrot. Unter der Woche kommt der Sohn des Bäckers in Leonding zum Mittagessen. Natürlich bekommt Adolf das große Zimmer, das Kabinett genannt wird. Die Mutter schläft mit den beiden Mädchen in der Kammer. Wieder macht ihr der Junge Sorgen. Er hat zweimal dieselbe Realschulklasse wiederholt und trotzdem nicht bestanden. Er soll den Abschluss in Steyr, bei Kosteltern untergebracht,  nachholen. Schon muss die Mutter ihr kleines Spargut­haben angreifen. Aber Adolf hat keinen Bock auf Schule. Er täuscht eine Lungenentzündung vor. Die Mutter gerät in Panik und holt ihren Liebling zurück nach Linz. Ein Klavier wird angeschafft. Adolf erhält für sündhaft teures Geld Klavierstunden.

Meistens sitzt er am Tisch. Malt und zeichnet. Die Mutter bewundert seine Aquarelle und Zeich­nungen. Aber er sollte doch auch etwas Ordentliches lernen. Vielleicht Zollbeamter wie sein Vater werden. Adolf weist diesen Vorschlag einer "Bagatellkarriere" empört zurück. Er ist inzwischen überzeugt, Kunstmaler und Architekt zu werden. Das Talent zu getreuer Zeichnung besitzt er. Auch die Fähigkeit, sich zum Künstler zu stilisieren. Ein Oberlippenbärtchen, die in die Stirn gekämmte Tolle, dazu ein schwarzes Spazierstöckchen mit Elfenbeinspitze. Das schwingt er lässig, wenn er nachmittags mit seinem Freund Gustl durch die Straßen bummelt.

Jeden Tag treffen sie am selben Eck auf eine Dame, die in Begleitung ihrer Tochter unterwegs ist. Adolf Hitler ist sich sicher, dass das Mädchen über beide Ohren in ihn verliebt ist. Auch er spürt eine große Leidenschaft. Trotz Gustls Drängen vermeidet er die nächsten Jahre jeden näheren Kontakt mit seiner großen Liebe. Zum Trost genehmigt er sich in den Cafés unzählige Sahnetorten. Auch in der Oper fühlt er sich zu Hause. Besonders Richard Wagners Opern begeistern ihn. Ihr Schöpfer war ebenfalls ein Schulversager, hatte dem bürgerlichen Anpassungsdruck getrotzt und wird heute in der ganzen Welt als Genie gefeiert. Ohne menschliche Kontakte, jede Form geregelter Arbeit meidend, sonnt Adolf sich bereits im Glanz zukünftigen Ruhmes.

Eine neue Welt Wien

Erst der Achtzehnjährige rafft sich auf, seinem Berufswunsch Taten folgen zu lassen. Er geht nach Wien. Wien ist im Gegensatz zu Berlin, das sich erst zur Großstadt mausert, eine Weltstadt. Zehn Völker leben im Kaiserreich der Habsburger. Von Galizien im Osten bis zur Po-Ebene im Süden reicht das Staatsgebiet. Weite Teile des Balkans stehen unter österreichischer Verwaltung. Einer besonnenen Politik gelingt es, die nationalen Gegensätze zu mildern. 1908 wird mit großem Pomp das sechzigjährige Regierungsjubiläum Kaiser Franz-Josefs gefeiert. Der Jubel verschleiert die wachsenden Spannungen. Noch immer ist die politische Macht ein Privileg des Adels. Selbst den Bürgern, die für einen beachtlichen wirtschaftlichen Aufschwung sorgen, wird jedes Mitbe­stimmungsrecht verweigert. Kleinbürger, Handwerker, Arbeiter, die unter den Folgen der schnellen Industrialisierung leiden, fühlen sich von denen da oben nicht wahrgenommen.

1866 war die Donaumonarchie bei Königgrätz von den Preußen besiegt worden. Genauso demütigend wird der "Verrat" der süddeutschen Nachbarn empfunden. Statt sich für ein Großdeutsch­land einzusetzen, akzeptierten diese die kleindeutsche Lösung unter Führung Preußens. Die Öster­reicher, die sich dem Deutschtum verbunden fühlen, müssen sich plötzlich im eigenen Land als nationale Minderheit begreifen. Die Angst, von der slawischen Mehrheit überwältigt zu werden, wächst. Mancher dieser Deutschtümler flüchtet in den Größenwahn und fühlt sich als Teil einer Herrenrasse.

Der Schock

Der Träumer aus der Kleinstadt interessiert sich nicht für Politik. Er hat sich an der Kunstakademie in Wien beworben. Die Aufnahmeprüfung findet im September 1907 statt. Er fällt durch. Gleichzeitig trifft ein alarmierender Brief aus Linz ein. Der Zustand seiner Mutter hat sich bedrohlich verschlechtert. Im Januar war sie im Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern operiert worden. Jahrelang hatte sie sich schwach und elend auf der Brust gefühlt. Für sie waren es die Sorgen um ihren Adolf. Was soll aus diesem Jungen noch werden!? Als der Knoten entdeckt wird, ist es zu spät. Die Brust ist voller Metastasen. Adolf lässt das Bett der Schwer­kranken in die Küche bringen. Der einzige Raum, der auch tagsüber geheizt wird. Er rückt die Kommode zur Seite. Schläft auf dem dort aufgestellten Sofa. Er putzt, kocht, überwacht Paulas Hausaufgaben. Sie muss der Mutter versprechen, endlich eine fleißige Schülerin zu werden. Alle sehen erstaunt auf diesen Jungen, der seine Mutter nicht mehr aus den Augen lässt. Betroffen und gepeinigt registriert er ihre zunehmenden Schmerzen.

Am 22. Oktober besucht er mit seinen Schwestern ihren jüdischen Hausarzt. Dr. Eduard Bloch macht ihnen wenig Hoffnung. Vielleicht kann ein Medikament den Tod ein wenig hinaus­schieben: Jodoform. Es ist allerdings teuer. Die Kinder kaufen es. Der Arzt verzichtet vorerst auf ein Honorar. Er hat in Linz den Ruf eines Arme-Leute-Doktors. Ab November tröpfelt er das stechende Desinfektionsmittel täglich in die offene Wunde. Die Kranke schreit vor Schmerzen. Bleich und versteinert verfolgt Adolf ihr schweres Leiden. Das Mittel verätzt das Bindegewebe. Dann greift es die Blutgefäße an. Schließlich ist der ganze Brustraum entzündet. Selbst ein paar eingeflößte Tropfen Wasser bereiten der Mutter Höllenqualen. Sie verliert immer häufiger das Bewusstsein. Kommt sie zu sich, stützt Adolf die Kranke, die nur noch aus Haut und Knochen besteht. Dr. Bloch spritzt Morphium, um die Qualen der Sterbenden zu lindern.

Sie darf in den frühen Morgenstunden des 21. Dezembers sterben. Ihre Kinder haben die Kerzen des bereits aufgestellten Christbaumes angezündet. Als Dr. Bloch eintrifft, sitzt Adolf am Totenbett und zeichnet. Ihr kleines, verknittertes Foto wird er ein Leben lang bei sich tragen. In jedem seiner späteren Schlafzimmer wird sie auf sein Bett blicken. Ein enttäuschtes, müdes Gesicht, in Öl gemalt. Ihren Geburtstag erklärt der Reichskanzler Hitler zum Ehrentag der deutschen Mutter.

"Ich bin Ihnen ein Leben lang dankbar", sagt Adolf Hitler nach der Beerdigung zu Dr. Bloch. Er wird dieses Versprechen halten. Als nach dem Anschluss Österreichs Nazis in seine Praxis eindringen, bittet Bloch Hitler um Hilfe. Er reagiert sofort. Gestapobeamte schützen sein Haus, bis er ausreisen kann. Dem über Sechzigjährigen gelingt in Amerika kein Neuanfang mehr. Die Behörden erklären seine Arztpapiere für ungültig. Arm und verbittert stirbt er 1945 in der Bronx von New York. Kurz zuvor hatte sich Adolf Hitler im Bunker der Reichskanzlei durch Selbstmord seiner Verantwortung entzogen.

Lust und Abstieg eines Müßiggängers

Das mütterliche Erbe erlaubt Adolf ein sorgenfreies Leben. Wenn Gustl sich auf den Weg in die Musikhochschule macht, schläft er noch. Gegen Mittag steht er auf. Nach dem Frühstück bummelt er durch den Schönbrunner Schlosspark. Dann macht er sich ans Pläneschmieden. Das Dach der Hofburg missfällt ihm. Er wird sie durch einen Neubau ersetzen. Ganz Wien muss rundum neu gestaltet werden. Er zeichnet Turnhallen, Museen, Theater, Schlösser.

Vom Hauswirt zurechtgewiesen, macht er sich in einer Streitschrift Luft gegen die ganze Zunft. In weiteren Pamphleten bekommen auch Beamte und Lehrer ihr Fett ab. Friedlicher gestimmt, plant er ein Getränk aus Kräutern. Es wird den Massen helfen, vom Alkohol loszukommen. Die germanische Sagenwelt wird er in mehrere Heldendramen übersetzen! Seine Postkarten nach Linz strotzen von Rechtschreibfehlern. Auf dem Schreibtisch wächst der Berg mit Projekten, die irgendwann noch einmal gründlich durchgearbeitet werden müssen. Rauschhafte Hochstimmungen wechseln ab mit Missmut und Depression. In den Briefen Richard Wagners hat er einen vom Meister nicht realisierten Opernplan entdeckt. Adolf wird "Wieland, der Schmied" komponieren. Gustls zaghafte Einwände provozieren einen Tobsuchtsanfall. Er lässt sich nicht durch klein­bürgerliche Nörgelei aus der Bahn werfen!

Plötzlich ist er ausgezogen. Ständig wechselt er das Zimmer. Damit will er es der Muste­rungsbehörde schwer machen, ihn zu finden. Finanziell geht es ihm ausgezeichnet. Dem Vormund täuscht er eine Ausbildung an der Kunstakademie vor und bezieht dafür eine Waisenrente. Diese schönen Jahre hören sich in "Mein Kampf" so an:

"Fünf Jahre Elend und Jammer sind im Namen dieser Fäakenstadt für mich enthalten. Fünf Jahre, in denen ich erst als Hilfsarbeiter, dann als kleiner Maler mir mein Brot verdienen musste. Mein mehr als kärglich Brot, das doch nie langte, um auch nur den gewöhnlichen Hunger zu stillen. Er war damals mein getreuer Wächter, der mich als Einziger fast nie verließ."

Frühjahr 1909 ist das Geld ausgegeben. Was bleibt, ist die monatliche Waisenrente. Die Sommer­nächte verbringt er auf Parkbänken. Herbstliche Kälte zwingt ihn in die Warteschlange vor dem Obdachlosenasyl in Maidling. Den langen Wollmantel, der ihm über den Winter hilft, schenkt ihm ein ungarischer Jude. Auf den verfilzten, in Zotteln herunterhängenden Haaren sitzt eine schwarze, speckige Melone. Hanisch, ein erfahrener Landstreicher, will ihn zu Gelegenheits­arbeiten mitnehmen. Adolf lehnt erregt ab. Lieber geht er betteln.

Dumpf-brütend sitzt er in stickigen Wärmestuben. Irgendein Wort reizt ihn, provoziert einen seiner maßlosen Wortschwalle. Schroff lässt er nur seine Ansichten gelten, was zu hasserfüllten Streitereien führt. Hanisch hat ihm das Bekenntnis entlockt, Kunstmaler zu sein. Der gewitzte Gauner wittert ein Geschäft. Adolf hat nach Fotos Wiener Baudenkmäler Postkarten  zu zeichnen. Hanisch spielt den Blinden und Schwindsüchtigen und  verkauft die Karten in Ballsälen und Vor­stadtkneipen. Das Geschäft läuft gut an. Das seltsame Paar kann sich das Männerwohnheim in Brigittenau leisten. Hanisch wird diese gemeinsame Zeit das Leben kosten. Sofort nach dem An­schluss Österreichs lässt ihn Hitler suchen und umbringen.

Eine "granitene" Weltanschauung

Hier in den Asylen und Heimen sammelt sich das Treibgut des Vielvölkerstaates. Es riecht nach Schweiß und verschmutzter Kleidung. Neid, Rücksichtslosigkeit, Frust, Spannungen beherrschen das Miteinander. Jeder lauert nach einer Möglichkeit, diesem Sumpf zu entkommen, sieht im Anderen den unangenehmen Konkurrenten. Adolf, selbst ein übler Egozentriker, wird in der menschlichen Evolution die wüsten Umgangsformen dieses Männerheimes entdecken. "Die Idee des Kampfes ist so alt wie das Leben selbst. Denn das Leben wird nur dadurch erhalten, dass anderes Leben im Kampf zu Grunde geht. In diesem Kampf gewinnt der Stärkere, Fähigere, während der Unfähigere, der Schwache verliert. Der Kampf ist der Vater aller Dinge. Nicht durch die Prinzipien der Humanität lebt der Mensch oder ist er fähig, sich neben der Tierwelt zu behaupten, sondern einzig allein durch die Mittel brutalsten Kampfes."

Noch wird ihm widersprochen, wenn er gereizt loslegt. Er gilt als Spinner. Kalt, scheinbar über­legen, nimmt er die Demütigungen hin. Aber in ihm kocht es. "Ich werde es Euch allen noch heimzahlen!" Wenn morgens die Schlafkabinen zugesperrt werden, zieht er sich in den Lesesaal zurück. Ödet ihn die Postkartenproduktion an, flüchtet er in ein Café. Tante Johanna schickt dem "armen Kunststudenten" monatlich Geld. Er verschlingt Kaiserschmarrn und Sahneschnitten, blättert in den ausliegenden Zeitschriften und Broschüren, kauft sich im Tabakladen die neueste Ausgabe von "Ostara. Briefbücherei der blonden Mannesrechtler." Diese Bilderheftchen haben ihren Verfasser reich gemacht. Er nennt sich Jörg Lanz von Liebenfels und besitzt jetzt ein Schloss außerhalb Wiens. Vom Turm weht die Hakenkreuzfahne.

In den Schriften des Begründers der "Ariosophie" tankt Adolf neues Selbstbewusstsein. Hochgewachsen – wie er – sind die Arier. Markante Nase. Siegessicher schweift ihr Blick in die Ferne. Unappe­tit­lich und düster schleicht der Untermensch durchs Bild. Jeden ekelt es angesichts seiner unförmigen Knollennase. Ängstlich weicht er dem Blick des Betrachters aus. Diese kuriose "Rassenbiologie" wird Adolfs Glaubensbekenntnis. Rassenkampf ist der Motor der Geschichte! Überall wittert er Rassenschande! Wenn sich der Arier nicht wehrt, beginnt für ihn der Untergang, seine Endzeit! Der ehemalige Messdiener verkündet diese Heilslehre mit religiöser Inbrunst. "Denn der Arier ist das höchste Ebenbild des Herrn. Wie er der Träger aller kulturellen und zivilisatorischen Höchstleistungen in der Vergangenheit war, so ist er, dem Schöpfungsplan der Vorsehung zur Folge, auch künftig zur Höhe, zur Herrschaft bestimmt."

Offensichtlich hat die Vorsehung den so tief gestürzten Arier vergessen. Er ist jetzt einundzwanzig. Ohne Ausbildung. Vermeidet weiter jede Arbeit. Sex spielt sich bei ihm nur im Kopf ab. Er ris­kiert keine Liebelei. Um den unduldsamen Choleriker wird es immer menschenleerer. Wie wird er seinen Hass, seine wachsenden Aggressionen los? Die da oben, zu denen sich der proletarisierte Kleinbürger noch immer rechnet, hetzen gegen Juden und Sozialisten. Den Juden kann man alles anlasten: die moderne Kunst, die gottlose, liberale Presse, die Prostitution, den Kapitalismus, seinen teuflischen Gegenspieler, den Marxismus, die Syphilis, den vaterlandslosen Pazifismus. Alles sind Fangarme einer weltweiten jüdischen Verschwörung.

Überall entdeckt seine Fantasie blondgelockte Mädchen, über die sich Andere schamlos her­machen. "Der schwarzhaarige Judenjunge lauert stundenlang, satanische Freude in seinem Gesicht, auf das ahnungslose Mädchen, das er mit seinem Blute schändet und damit dem seinen, Mädchens Volke raubt." Überall vermutet der ewig Pubertierende Blutschande, Wollust, Inzucht, Hurerei. Er riecht Schweiß, hört Brunstschreie. Er hetzt durch sein sündiges Wien, entdeckt die "Judenbastarde" an allen Ecken und Enden, gierig nach Beute.

Am Ring reißt ihn eine Demonstration aus seinen Fieberfantasien. Er ist fassungslos. Stundenlang ziehen Tausende von Menschen an ihm vorüber. Junge und alte, Mütter mit ihren Kindern. Ein Meer von roten Fahnen. Musikkapellen spielen. Begeistert singen die Menschen ihre Arbeiterlieder. Wofür demonstriert wird, interessiert Adolf Hitler nicht. Ihn fasziniert die Dramaturgie des Auf­marsches. Für ihn ist es nur "Menschenmaterial, geschickt in Szene gesetzt". Ihn überläuft ein Schauer, den er bisher nur aus der Oper kannte. "Irgendwann einmal werden nach meiner Anweisung Hunderttausende aufmarschieren. In Schritt und Tritt, die Reihen fest geschlossen!"

Flucht in den Krieg

Aus Angst vor der Militärpolizei flüchtet er nach München. Im Mai 1913 bezieht er bei einem Schwabinger Schneider ein Zimmer. Auf dem Meldeamt gibt er als Nationalität "staatenlos" an. Inzwischen lässt ihn die Musterungsbehörde mit einem Haftbefehl suchen. Plötzlich entdeckt, flüchtet er in die Offensive. In seinem Brief, der von Fehlern strotzt, schildert er sich als armen Waisen, der verzweifelt gegen ein schweres Schicksal ankämpft.

Sein Steuerausweis zeigt, dass er sich noch immer nicht um Arbeit bemüht. Ein paar verkaufte Skizzen und Aquarelle und das Malen einiger Werbetafeln sichern ihm ein karges Einkommen. Trotzdem glaubt er weiter an eine große Karriere als Maler und Baumeister. Auf sein Herumhängen ange­sprochen, rechtfertigt er sich mit einem kurz bevorstehenden Krieg. Diesmal gibt ihm die Vor­sehung sogar Recht. Am 1. August 1914 unterzeichnet der deutsche Kaiser die Kriegserklärung. Ein Foto zeigt Hitler inmitten jubelnder Menschen auf dem Odeonsplatz. Der Mund ist halb geöffnet. Seine Augen sind feucht. Offensichtlich hat er geweint. Später wird er behaupten, er sei in die Knie gesunken und habe dem Schicksal für diesen Ausweg gedankt. Noch am selben Nach­mittag meldet er sich in der nächsten Kaserne. Er wird dem Regiment List zugeteilt. An der Westfront im Einsatz, hat er an die einzelnen Stellungen Informationen weiterzuleiten. Eine schwierige und gefährliche Aufgabe, die er tapfer meistert. Er wird mit dem Eisernen Kreuz erster und zweiter Klasse ausgezeichnet.

ah_berghofTrotzdem können sich weder Vorgesetzte noch Kameraden mit dem seltsamen Gefreiten anfreunden. Er bleibt weiter der Spinner. Ohne Freundschaften und verwandtschaftlichen Kontakt wird der Krieg sein einziger Lebensinhalt. Felsenfest glaubt er an den deutschen Sieg. Er schämt sich für die biedere deutsche Propaganda, die beim Gegner nur Spott hervorrufen kann. Ende 1917 erblindet er durch einen Gasangriff vorübergehend. Er kommt in ein Lazarett bei Berlin. Dort registriert er entsetzt die sich ausbreitende Kriegsmüdigkeit. Zurück an der Front erlebt er den Tag  der Kapitulation auch als persönliche Niederlage. Endlich einmal hatte er es geschafft, dazu zu gehören. Jetzt machte ihn das Kriegsende wieder zum Außenseiter.