Noch immer kommen mir bei der Erinnerung an seine letzten Stunden Tränen. Ich bin dankbar, dass ich ihm bei seinem Abschied von dieser Welt helfen konnte. Zuletzt hatte ihn eine Gehirnblutung aus der Bahn geworfen. Nach wenigen Tagen war er nicht mehr ansprechbar. Wir baten die Ärzte, ihn nicht künstlich zu ernähren.
Seine lange Annäherung an den Tod
Nach seinem 80. Geburtstag hatte Vater bei einem Urlaub in Südtirol zu sehr geschlemmt. Auf der Rückfahrt erlitt er auf einer Autobahntoilette einen Zuckerschock. Gelähmt stand er am Pissbecken und war nicht mehr in der Lage, die heruntergefallene Hose hochzuziehen. Seit diesem Zusammenbruch nahm er Tabletten gegen seinen Alterszucker.
Zweimal kam er nach einem Schlaganfall ins Krankenhaus. Trotzdem wollte er noch immer nichts vom Sterben wissen. Vor über acht Jahren stellte ich Lieder und Gebete für seine Totenmesse zusammen, um auf sein sterben vorbereitet zu sein. Er aber feierte stolz seinen 90. Geburtstag.
Seine Altersdemens nahm zu und er nässte öfters ein. Wenn meine erschöpfte Mutter vom Sterben sprach, protestierte er heftig. In seinen letzten Monaten fiel er immer wieder um. Mutter und Erna, die seit fünfzig Jahren in unserer Familie lebt, waren zuletzt aufgrund immer neuer Aufregungen am Ende ihrer Kraft.
"Wir sterben, wie wir gelebt haben.",
sagt Stanley Keleman in seinem Buch "Lebe Dein Sterben!". Mein Vater ist dafür ein gutes Beispiel. Auf dem Russlandfeldzug hatte ihn, den jungen Soldaten, eine Laus mit Fleckfieber infiziert. Als er nach Wochen aus dem Koma erwacht war, konnte er nach Deutschland zurückverlegt werden. Am 5. Juni 1944 heirateten meine Eltern in der Georgskirche in Dinkelsbühl. Am Nachmittag fiel Vater erneut in ein Koma. Auch diesmal musste der Tod klein beigeben. Aber sein angeschlagenes Herz erzählte von diesen frühen Jahren des Widerstands.
Sein tiefer Glaube
Bis auf sein letztes Lebensjahr las er jeden Vormittag im Wohnzimmer in seinen Gebetbüchern. Sicher hat er zuletzt den Sinn vieler Zeilen nicht mehr erfasst. Zum Abschluss sprach er das "Vater Unser" und erbat für seine Verstorbenen die ewige Ruhe. Mit den Jahren war die Liste der Toten, an die er sich erinnerte, immer länger geworden. Seine Meditation beendete er stehend vor der Kommode. Er sprach feierlich mit Blick nach draußen auf den Garten: "Dank sei Gott dem Herrn! Dank sei Gott dem Herrn! Dank sei Gott dem Herrn!"
Aus seinen Gebeten sprachen ein so großer Ernst und eine so schöne Inbrunst, dass ich von seiner innigen Sehnsucht nach dem Jenseits ausging. Aber als ich ihn vor Jahren einmal fragte, ob er sich auf den lieben Gott freue, sah er mich verwundert an und verneinte. Dabei hatte sein Glaube so tiefe Wurzeln.
Die kritische Haltung meiner Mutter zur katholischen Kirche war ihm fremd. Schon als Junge hatte er sie in seiner oberschlesischen Heimat als "Mutter Kirche" erfahren, in der er sich glücklich und geborgen gefühlt hat. Er wurde ihr treuer und mutiger Diener, den deshalb kirchenfeindliche Nazi-Bonzen als Führer der Hitler-Jugend absetzten.
Erst der Gedanke an sein Sterben muss ihn in seinem Glauben erschüttert haben. Zwar stimmte er ein, wenn man mit ihm betete. Dann war wieder seine frühere Hingabe zu hören. Aber von dem drohenden Tod wollte er trotzdem nichts wissen.
Wenn ich einmal soll scheiden
Vielleicht wird es mir ähnlich ergehen, wenn es ums Sterben geht. Noch nie zuvor hat mich jene Strophe aus "O Haupt voll Blut und Wunden!" so tief berührt wie in den letzten Stunden mit Vater. Unter Tränen sang ich ihm immer wieder vor:
Wenn ich einmal soll scheiden,
dann scheide nicht von mir.
Wenn ich den Tod soll leiden,
dann trittst Du dann herfür.
Wenn mir am allerbängsten
wird um das Herze sein,
dann reiß mich aus den Ängsten
kraft Deiner Angst und Pein.
Am Rande angekommen
Vaters Abschied verlief ganz anders als bei meinem Freund Gerhard. Er hatte Aids und war zuletzt auch noch erblindet. Deshalb rief er mich Blinden zu Hilfe. Anfangs fasste er wieder Lebensmut und freute sich sogar auf einen Blindenhund. Aber dann zog er sich immer mehr in sich zurück. Viele Stunden verbrachte ich an seinem Bett und hielt seine schönen, schmalen Hände. So auch an jenem Abend, als er einschlief. Wahrscheinlich haben ihm seine Freunde dieses Hinübergleiten erleichtert.
Vater bekam keine Beruhigungsmittel. Ich spürte an seinen Händen, wie ihn etwas mitriss. Er bekam Angst und sein Körper schreckte zurück. Ich versuchte, ihm Mut zu machen: "Ach Vati. Du brauchst doch keine Angst zu haben. Ich bin doch bei Dir!". Aber auch mir war dieser sich beschleunigende Sog unheimlich. Tränen kamen. Ich wollte ihm etwas von jener Geborgenheit zurückschenken, die er mir, als ich noch ein Kind war, vermittelt hatte. Dann war es plötzlich sehr still im Raum. Ich streichelte seine heißen Hände. Seine Unterarme fühlten sich schon sehr kalt an.
Der verklärte Leib
Ich hatte ihn in den letzten Jahren immer wieder berührt und oft bei ihm geschlafen. Seine einst kräftigen Arme, die so viel gearbeitet hatten, waren dünn und kraftlos geworden. Jetzt in seinen letzten Stunden erlebte ich mit Erstaunen einen schönen Menschen. Etwas von seiner früheren Kraft schien zurückgekehrt zu sein.
Seit meiner Erblindung weiß ich, dass Sehen auch ohne Augen möglich ist. Manchmal sehe ich für einen Moment mein Gegenüber oder die Umgebung. Aber auch meinen verstorbenen Freund Rufus habe ich auf diese Weise wahrgenommen. Vier Tage vor seinem Tod hatte ich ihn noch einmal in meinen Armen gehalten. Er war völlig Abgemagert. Nur sein Bauch war aufgrund des Tumors aufgebläht. Als mir sein Tod mitgeteilt wurde und ich mich auf den Weg in seine Wohnung machte, sah ich ihn am Himmel schweben. Wie jetzt auch Vater erschien er mir berührend schön. Die Last der Erdenschwere war von ihm abgefallen.
Der Schritt in die Freiheit
Immer wieder in den letzten Jahren hatte ich gehofft und gebetet, Vater könne loslassen und in sein Sterben einwilligen. Schon viel zu lange lebte er auf Kosten von Mutter und Erna. Er schien sich dessen nicht einmal bewusst zu sein. Jetzt hatte mich dieser quälende Gedanke verlassen. Ich streichelte seine Arme. "Wenn Du noch nicht sterben willst, Vati, dann ist das auch in Ordnung." Wir teilten einen berührenden Frieden. Vielleicht hatte ihn sein Herz-Schritt-Macher noch einmal zurückgeholt.
Als Mutter gegen acht Uhr anrief, ließ ich ausrichten, dass Vater noch lebe. Ich wurde aufgefordert, eine Tasse Kaffee zu trinken und etwas zu essen. Danach nahm ich wieder Vaters warme Hände. Eine Schwester kam ins Zimmer. Sie sah auf das Bett und sagte: "Herr Schneider. Ihr Vater ist gestorben."
Er hatte den letzten Schritt aus eigener Kraft geschafft.