Vor drei Jahren fragte ich bei einem Abendessen meinen demenskranken Vater: "Freust Du Dich auf den lieben Gott?" Er sah mich verdutzt an und antwortete zögernd "Nein". Inzwischen ist er 91 Jahre alt geworden.
Seine Antwort damals hat mich überrascht. Jeden Tag betet er mit großer Inbrunst und bittet für alle Verstorbenen, die ihm nahestanden. "Herr, gib ihnen die ewige Ruhe und das ewige Licht leuchte ihnen. Herr, lass sie ruhen in Frieden. Amen"
Aber solange ihm die Mahlzeiten schmecken, spürt er wenig Neigung, diese irdische Wirklichkeit gegen eine andere einzutauschen.
Dem Himmel sehr viel näher scheint meine Mutter zu sein. Von Bluthochdruckattacken gepeinigt, erwähnt sie oft, todmüde zu sein. Aber sofort fügt sie hinzu, dass sie meinem Vater zuliebe weiterleben müsse.
Mein Vater und meine Mutter haben in ihrer Kindheit Armut kennengelernt. Vater kam 1918 als viertes Kind in einer oberschlesischen Bergarbeiterfamilie auf die Welt. Sein Vater starb mit 61 Jahren an Staublunge. Ich habe das Haus seiner Kindheit besichtigt. Sie lebten in einer Eineinhalb-Zimmer-Wohnung. Das Wasser holten sie an einem im Flur befindlichen Hahn. Das Plumpsklo unten im Hof gibt es noch immer. Daran gemessen darf mein Vater seinen Lebensabend in einem "Palast" verbringen. Kein Wunder, dass er diese schöne Welt nicht verlassen möchte.
Mutter ging es auf den ersten Blick besser. Ihr Vater war Haarzurichter und hatte es zu einem eigenen Handwerksbetrieb gebracht. Sein Vater musste bei Kriegsbeginn einrücken und ließ seine Frau mit neun unmündigen Kindern zurück. Deshalb musste der Älteste einen "Brotberuf" lernen. Sein Lehrer hätte den begabten Jungen lieber auf das Lehrerseminar geschickt.
Diese harten Jahre haben meinen Großvater geprägt. Sicher war er nicht geizig. Aber er achtete auf jeden Pfennig.
Meiner Großmutter hatten ihre Schwestern eingeredet, einen wohlhabenden Unternehmer geheiratet zu haben. Da sie gerne Gutes tat, kam sie selten mit dem zugeteilten Haushaltsgeld aus. Ständig gab es Streit zwischen den Ehepartnern.
Bedrückt von diesen Auseinandersetzungen nahm sich meine Mutter vor, in ihrer Ehe nie um Geld zu streiten. Das ist ihr gelungen. Obwohl wir arm waren, habe ich das als Kind nicht mitbekommen.
Mein Vater übernahm den Handwerksbetrieb des Schwiegervaters. Aber zu seinem wirtschaftlichen Erfolg hat meine blinde Mutter mit ihrer wachen Intelligenz wesentlich beigetragen.
Ihre Mutter starb mit 55 Jahren an Kieferkrebs. Geradezu süchtig hatte sie nach dem Krieg jede Nachricht über die neue, unheimliche Krankheit verschlungen. Der Krebs traf sie anders als sie erwartet hatte. Auch sie ließ tote Zähne nicht völlig entfernen, sondern entschied sich für Stiftzähne. Im Wurzelbereich bildeten sich Eiterherde, die zu Krebszellen degenerierten.
Ihr Mann folgte ihr sechs Jahre später. Weil er Autobesitzer war, musste er sich bei Kriegsbeginn an der Front melden. Aus Polen kam er magenkrank zurück. Er starb mit 61 Jahren nach einem Magendurchbruch.
In Dinkelsbühl war es die letzte Überführung mit einem Pferdewagen. Wir folgten dem Sarg. Das Sterbeglöckchen läutete. Die wenigen Autos hielten an. Die Passanten am Straßenrand blieben stehen und die Männer zogen ihren Hut. In den folgenden Jahrzehnten wird man den Tod immer mehr aus dem Straßenbild verbannen.
Mich mit meinem Sterben anfreunden
Andreas Tod, in den ich verliebt gewesen war, hat mich lange beschäftigt. Obwohl er sich für einen anderen Mann entschieden hatte, blieb unser Verhältnis herzlich. Als sich der schreckliche Unfall ereignete, war ich bereits aus Berlin weggezogen. Auf dem Heimweg vom Waldschlösschen nach Westberlin fiel auf der Transitstrecke der Motor aus. Bei dem Versuch, den Wagen an den Autobahnrand zu schieben, wurden Andreas und Johannes von einem Lkw erfasst und mitgerissen. Wäre Andreas aus dem Koma erwacht, wäre er sicher gelähmt und geistig behindert gewesen. So sehr der Tod für ihn eine Erlösung war, ich habe Andreas noch lange vermisst.
Johannes hat den Unfall überlebt. Aber manchmal wirkte er seltsam benommen. Da wir uns nur noch selten sahen, habe ich die Tragweite seines Schocks gar nicht so recht erfasst. Auch auf seinen Tod war ich nicht vorbereitet. Er starb auf Korfu durch plötzliches Herzversagen.
Viele wünschen sich einen solchen überraschenden Tod ohne Kampf. Aber wer wie ich zurückbleibt, trauert dem so schnell verschwundenen noch lange nach.
Gerhard war bisher der einzige Mensch, dessen Todesstunde ich miterleben durfte. Kennengelernt hatten wir uns im Cafe Positiv in der Großgörschenstraße. Dass ich mich nach meiner Erblindung weiter in die schwulen Rauschwelten wagte, hatte Gerhard beeindruckt. Als ihm der gefürchtete Herpes das Augenlicht raubte, wurde ich zu Hilfe gerufen. Gerhard fasste Mut und eine Zeitlang beflügelte ihn der Gedanke an einen Blindenhund.
Über Wochen saß ich an seinem Bett und hielt seine Hand. Ich konnte nicht übersehen, dass er sich immer mehr in sich zurückzog. Seine letzten Atemzüge waren sehr berührend.
Rufus näherte sich seinem Tod im Zick-Zack. Seine Wünsche, das neue Jahrtausend zu erleben und 2001 seinen 40. Geburtstag zu feiern, gingen in Erfüllung. Während sein Krebs einem künstlichen Darmausgang erzwang und sein Körper immer mehr abbaute, entwarf er sich noch einmal neu als "Starlet". Auch in seinen letzten Lebensjahren haben sich Rausch und Zusammenbrüche abgewechselt.
"Wir sterben, wie wir gelebt haben.", sagt Stanley Keleman.
Von seinem gewissenhaft am Körper orientierten Blick habe ich viel gelernt.
Wenn seine Aussage zutrifft: welche Dynamik beherrscht dann mein Leben?
Kurz nach meiner Geburt lag ich im Sterben. Alle Säuglinge waren an einer grassierenden Magen-Darm-Grippe erkrankt. Ich war einer der wenigen, der überlebt hat.
Aber dieser Sieg muss meinem kleinen Körper viel Kraft gekostet haben. Schon früh spürte ich eine tiefe Niedergeschlagenheit. Fröhliche und unbeschwerte Jungen zogen mich an. Ich beneidete sie um ihre vitale Kraft. So eingestimmt machte ich mich auf die Suche nach mir selbst.
Auf diesem Weg verhalf mir mein psychotischer Schub im Jahre 1978 zu einem Schlüssel-Erlebnis. Ich traf einen Drogenfreak, der mir seine Lederjacke schenkte. Auf den Rücken hatte er Phönix, den Feuervogel, gemalt.
Die griechische Mythologie erzählt von diesem Vogel, der in Flammen aufgeht, um dann aus der Asche wieder neu aufzuerstehen.
Ich kann mich an viele Aschephasen in meinem Leben erinnern: mein Scheitern in so mancher Liebesbeziehung, meine Erblindung, die Aids-Infektion.
Seltsamerweise haben mir all diese Tiefs geholfen, tiefer in meinen Körper hineinzufinden.
Vom Wesen her ein Asket näherte ich mich meiner Sehnsucht, ein leidenschaftlicher Mensch zu sein, über den Umweg des Leids.
Wie wird meine letzte Stunde verlaufen?
Ich sollte auch dann, wie so oft in meinem Leben, zu meinem "Ertrinken" "Ja" sagen.
Vor drei Jahren wäre ich wirklich fast ertrunken. Mein Freund Theo, der mich als sicheren Schwimmer kannte, erfasste den Ernst der Situation zu spät. Ich fragte ihn, woher plötzlich die heftigen Wellen kämen. Schon begann ich zu sinken und geriet in einen lichtdurchfluteten Raum. In der Ferne sah ich Rufus stehen, dessen Hände seine Oberschenkel berührten. Seltsam verklärt war sein Leib, wie ich es von den Darstellungen des auferstandenen Christus kannte. Plötzlich spürten meine Hände den Rand eines Bootes, das mich zum Ufer brachte.
Am nächsten Tag hatte eine Freundin Geburtstag. Ich beschäftigte mich mit den Jahren fast mehr mit ihrem als mit meinem Leben. Sie raubte mir immer mehr meine Lebenskraft.
Aufgeschreckt durch mein Ertrinken beendete ich diese Beziehung.
Nicht selten lässt mich mein Körper scheitern, damit ich zur Besinnung komme.
Ihn jagt mein Sterben sicher keine Angst ein und ich darf mich ihm auch in dieser letzten Stunde anvertrauen.
1959 kam der Spielfilm "Hunde wollt ihr ewig leben!" in die westdeutschen Kinos. Er spielt in Stalingrad während der deutschen Besatzung. Hitler hatte jede Kapitulation untersagt. General Paulus, der den sicheren Tod seiner VI. Armee vor Augen hatte, widersetzte sich diesem Führerbefehl und führte seine Soldaten in die Kriegsgefangenschaft.