Das Fest der Geburt

BILD081Wenn in der Nachkriegszeit wir Kinder im Sommer bei den Urgroßeltern zu Besuch waren, hinderte uns eine seltsame scheu, einen Blick in ihr Schlafzimmer zu werfen. Neugierig durchstöberten wir den Dachboden und den Keller. Aber keiner hätte es gewagt, heimlich die Schlafzimmertür zu öffnen.

Meine Mutter berichtet in ihren Erinnerungen "Kindheit und Jugend auf der Insel" von Urgroßmutters schwerem Leben. Vierzehn Mal war sie schwanger. Nur neun der Geborenen erreichten das Erwachsenenalter. Urgroßvater war ein Tüftler und ein Freigeist, der gerne rauchte und sein Viertele genoss. Seine Frau verzichtete auf jeden persönlichen Genuss und holte sich im Gebet Trost und Hilfe. Was verband diese beiden Menschen, die in so unterschiedlichen Welten zuhause waren und nachts das Bett teilten?

Die Generation ihrer Kinder

Viel unbefangener kann ich von der einen oder anderen Ehe ihrer Kinder erzählen. Mathilde kam als erste auf die Welt. Sie lernte den einzigen Beruf, der vor dem ersten Weltkrieg Mädchen offenstand. Es war das Schneiderhandwerk. Ihr späterer Mann hatte sich bei Kriegsbeginn im idealistischen Überschwang von der Schulbank weg an die Front gemeldet. Nach der Niederlage gehörte er zu den vielen Entwurzelten, die Jahre brauchten, um beruflich Fuß zu fassen. Zu gegensätzlich waren diese beiden Menschen, um miteinander glücklich zu werden.

Über beide Ohren verliebt angelte sich Annerle einen außergewöhnlich gutaussehenden Österreicher. Der nutzte rücksichtlos seinen Liebreiz und ließ sich auch durch ihre Ehe nicht abhalten, andere Frauen zu verführen. da sie im katholischen Österreich geheiratet hatten, konnte die Ehe nicht geschieden werden. Annerle blieb alleine mit ihren beiden Kindern Robert und Paula zurück. Ihren Unterhalt verdiente sie als Kellnerin. Wenn sie mit ihrer schönen Altstimme eines ihrer geliebten Wiener Lieder sang, ahnten nur wenige Gäste, wie schwer es ihr oft ums Herz war.

Die meisten Sorgen bereitete den Urgroßeltern ihr Sohn Toni. hochbegabt wollte er bereits als Musikstudent groß herauskommen. An seinen Schulden, die ihn ins Gefängnis brachten, zerbrach auch seine ehe. Für seine drei Kinder übernahm er keine Verantwortung.

Auch Hanny sorgte für viel Leid. Noch nicht sechzehnjährig wurde sie vom Sohn des benachbarten Schneidermeisters geschwängert. In Graz, Urgroßvaters Heimat, brachte sie das Mädchen zur Welt. Marianne wuchs in dem Glauben auf, das jüngste Kind der Urgroßeltern zu sein.

Auch meine Mutter wurde 1925 geboren. Zwischen den gleichaltrigen Mädchen entwickelte sich eine tiefe Freundschaft. Marianne folgte ihrem Mann, der Ingenieur war, nach Amerika. Als er einmal in seinem VW bei einer nahen Tankstelle einkaufen wollte, fuhr ihn ein Fünfzehnjähriger mit dem Schlitten seines Vaters tot. Flori war noch keine zehn Jahre alt, als sie ihren Vater verlor.

Meine Generation

In den sechziger Jahren besuchte uns in Dinkelsbühl ab und zu Großvaters Bruder Josef mit seiner Familie. Wenn sie zum Vespern nach Dürrwangen, wo die Bahles herstammen, fuhren, wurde ich mitgenommen. Ich saß hinten im Auto zwischen Ursel, die drei Jahre älter als ich war, und Gerdi, die mir zwei Jahre voraus war. Begeistert sangen wir Kinder "Lustig ist das Zigeunerleben".

Ihr Vater starb mit fünfzig Jahren überraschend an einem Herzinfarkt. Betroffen vom seinem Tod suchte Ursel Trost und wurde schwanger. Sie widersetzte sich der Forderung ihrer Mutter, den ungeliebten Mann zu heiraten. Ihre Schwester ließ sich zu einer Ehe überreden, die nach wenigen Jahren scheiterte.

Verglichen mit unseren Eltern konnten wir schon offenherziger über unsere persönlichen Probleme sprechen. Wir hatten mehr Freiheiten, eigene Wege zu suchen und zu gehen. Ich war das einzige Kind meiner Eltern geblieben. Auch Vaters Bruder Stefan hatte nur einem Sohn und seine Schwester Agnes nur eine Tochter. Wir drei haben, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, keine Kinder.

Nur Hansel in Nördlingen hat es zum Vater von drei Töchtern gebracht. Sonst hat sich in meiner Verwandtschaft die Zwei-Kinder-Ehe durchgesetzt. Lag es an den Wohlstandsjahrzehnten, dass die Zahl der Geburten immer mehr zurückging?

Heute spüren wir die Nachteile dieser Entwicklung. Die Renten ließen sich auch aus Steuereinnahmen finanzieren. Aber wo Kinder fehlen, geht viel an spontanem Leben verloren und werden die Beziehungen zwischen den Generationen ärmer. 

Die fröhliche Weihnachtszeit

Sicher waren es in der Nachkriegszeit auch die Geschenke, die dem Fests zu einem besonderen Glanz verhalfen. Gleichzeitig konnten das Christuskind und die Lieder, die von ihm erzählten, unsere Kinderherzen tief berühren.

Mit Erwachsenenaugen betrachtet ist Maria eine tragische Erscheinung. Sie ist von der Großzügigkeit eines Mannes abhängig, der nicht der Vater ihres Kindes ist. Die Verwandtschaft verhält sich feindlich-abweisend und verweigert der schwangeren Frau das Nachtquartier. Glaubt man den biblischen Geschichten, dann zieht das Neugeborene sofort den Hass der Mächtigen auf sich.

Auch wenn uns die Vernunft sagt, das das geschilderte Kindermorden in Betlehem so nicht stattgefunden haben kann, bleibt ein bedrückendes Gefühl zurück. Selbst die Hirten auf dem Felde mussten erst durch ein Aufgebot an Engeln überzeugt werden, den Stall aufzusuchen und das Neugeborene zu beschenken. Es verlangt viel Glaubensbereitschaft, hinter all den tragischen Ereignissen Gottes gütige Hand zu sehen. 

Die formende Erfahrung der Schwangerschaft

Wie hat Urgroßmutter ihre Schwangerschaften erlebt und durchlebt? Jeder dieser verhuschten Momente der Lust konnten für sie neun neue, beschwerliche Monate bedeuten, in denen sie auch noch die bereits vorhandenen Kinder versorgen musste. Auch ihre schwangeren Töchter waren oft durch die Verantwortung für ein Neugeborenes überfordert. An diesen bitteren Erfahrungen konnte ihr Herz wachsen, aber auch zerbrechen.

Von der Verwandlung des Herzens spricht auch der Mystiker Angelus Silesius in seinem "Cherubinischem Wandersmann".

"Wird Christus tausendmal zu Betlehem geboren

und nicht in Dir,

Du bleibst noch ewiglich verloren."

(Vers 61: In Dir muss Gott geboren werden)

Wenn sich selbst Gott der Schwangerschaft nicht entziehen konnte und Christus gebar, dann muss diese Erfahrung auch im Leben von uns Männern eine Rolle spielen. Freilich müssen wir uns zurücknehmen, bevor wir das, was an Neuem in uns wachsen möchte, wahrnehmen können. Es sind oft sehr leidvolle Zeiten, in denen wir von vielem lieb Gewonnenen Abschied nehmen müssen. Aber es ist eine schöne Erfahrung, selbst im Alter immer wieder neu geboren zu werden.