Depressionen

16 Daniel FotosFrühjahr 1994 bin ich erblindet. Damals wohnte ich bereits in der Simon-Dach-Straße im Ostteil der Stadt. Ganz in der Nähe hatte das Komm-Rum eröffnet, einem Begegnungsort für seelisch Kranke und Psychiatriebetroffene. Hier konnte ich nicht nur meine Wäsche waschen. In diesem Kreis mühselig Beladener Menschen fühlte ich mich, der mit dem Dunkel in seinen Augen zurechtkommen musste, ganz gut aufgehoben. Für unsere Musikgruppe schrieb ich zwei Lieder zum Thema Depression. Beim ersten nutzte ich die Melodie des Songs "The house of the rising sun".

1. Wenn wieder mal Dich Schwermut packt,
Dann tröst dein armes Herz
Und Sag ihm leis, Ich bin Dir gut,
und Teile seinen Schmerz. 

2. Wenn grau in grau der neue Tag,
Die Angst im Nacken sitzt,
Dann streichle Deine arme Haut und sag, 
Ich hab mich lieb.

3. Du musst nicht mehr als jetzt und hier den Augenblick bestehn.
Auch wenn er schmerzt, es ist Dein Leid
und halt es nicht zurück.

Anders als in der Generation meiner Eltern war es mir möglich, dem Seelischen in vielfältiger Weise nachzuspüren. So entdeckte ich für mich das Mantra" Ich will alles zulassen, aber nichts festhalten.". Während ich die Worte ausspreche, versuche ich langsam und bewusst auszuatmen. Der Satz hilft mir beim Umgang mit Angst- und Panikzuständen.

How many roads must a man go down?

Lange war ich überzeugt, dass mein Leben im Zeichen von Phönix, dem Feuervogel, steht. Feuer - und Aschephasen schienen sich abzuwechseln. Meine Höhenflüge verführten mich zu einem Zigeunerleben. Ich fing wenig mit meinem akademischen Abschluss an und hoffte, als Freak durchs Leben zu kommen. Jetzt im Alter ist die Euphorie dieser Jahrzehnte verflogen und oft belasten mich depressive Stimmungen. Von ihnen erzählt das zweite Lied. Wir sangen es auf die Melodie von Bob Dylans Song "How many roads must a man go down".

1. Wie oft reißt mich Einsamkeit nachts aus dem Schlaf und ich sehn mich nach Wärme und Halt.
Wie oft hofft mein Herz: Nimm mich jetzt in den Arm.
Doch ich schäm mich, verbirg meine Pein.
Warum bleibt der Wunsch, der so viele bewegt,
nur ein Traum und der Alltag ernüchternd und grau?
Die Antwort, mein Freund, die suchen Du und ich.
Die Antwort entlocken wir dem Wind.

2. Warum ist es geil, wenn der Rausch mich erfasst
und der Absturz ernüchternd und hart?
warum lacht die Sonne, wenn düster mein Herz
und die einzige Zuflucht mein Bett?
Woher nehm ich Kraft, wenn mein Kopf fast zerplatzt
und alles in mir schreit: Mach Schluss!?
Die Antwort, mein Freund, die finden Du und ich.
Die Antwort entlocken wir dem Wind.

3. Wer geht mit mir das nächste Stück Weg, Vielleicht führt er raus aus dem Tal.
Wer spricht mich an, wenn vor Kummer ich stumm
und nimmt meinem Herzen die Angst?
Wer teilt sein Lachen und Weinen mit mir
und öffnet der Hoffnung die Tür?
Die Hoffnung, mein Freund, die wagen Du und ich,
nicht nur im warmen Sommerwind.

Mein Freund Manfredo hat das Dunkel solcher Stunden nicht mehr ausgehalten und hat sich letztes Jahr das Leben genommen. Ich hatte ihn oft beneidet. Auf jedem Foto sah er geil aus und mit seinem melancholischen Liebreiz hat er viele Menschen angezogen. Was mir bei unserem Kennenlernen noch nicht so recht klar war: Depression ist eine Krankheit, die viele schon seit Kindertagen mit sich herumtragen, uns aber erst im Laufe des späteren Lebens bewusstwird.

Die Mitgift der frühen Jahre 

In einem alten Haus aus dem 18. Jahrhundert habe ich meine ersten sechs Lebensjahre verbracht. Aber An dieses Haus BESITZE ich keine Erinnerungen. Selbst sein berüchtigtes Plumpsklo ist mir nur dank der Erzählungen der Erwachsenen vertraut. Anders ergeht es mir mit dem Räumen des katholischen Kindergartens, DEN ich in dieser Nachkriegszeit besucht habe. Vor allem die Truhe mit den Kasperlepuppen im Obergeschoss kann ich sofort vor meinem inneren Auge herbeizaubern. 

Gegen Kriegsende füllte sich das alte Haus mit Flüchtlingen. Aus Oberschlesien, Vaters Heimat, kamen seine Mutter und seine Schwester Agnes. Aus dem zerbombten Nürnberg flüchtete Großvaters Schwester Theres. Irgendwann traf aus Ostpreußen Ihr Sohn Heinz mit seiner schwangeren Freundin ein.

Meine Geburt hat Mutter und ihren erkrankten Augen schwer zugesetzt. Auf der Säuglingsstation grassierte eine schwere Magendarmgrippe. Ein halbes Jahr bangten meine Eltern um mein Leben. Mutter wird im Laufe der nächsten Jahre erblinden. Ihr Vater war aus Polen mit einem schweren Magenleiden heimgekehrt. Ihre Mutter verrannte sich in die Vorstellung, an Krebs sterben zu müssen, was dann auch eintraf. 

Ich soll meinem Großvater väterlicherseits ähnlichsehen, der schon in den dreißiger Jahren aufgrund seiner Staublunge verstorben war. Das geballte Leid dieser Menschen wird in mir Spuren hinterlassen haben, auch wenn ich es noch nicht wahrnehmen konnte. 

Meine Kindheit habe ich als glücklich und behütet in Erinnerung. Wir waren arm. Aber das verhalf jeder Mahlzeit zu einem besonderen Glanz. Vor dem Zubettgehen las mir Vater eine Geschichte vor. Ihm verdanke ich ein tiefes Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Freilich gab es damals in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern kaum körperliche Nähe, wie sie heute in jungen Ehen häufig vorkommt. 

Sobald ich lesen konnte, wurden mir Bücher zu einem Zufluchtsort, an dem ich viel Zeit verbrachte. Wie Vater wurde ich tiefreligiös und bezog aus dieser überirdischen Welt viel Trost. Auch in der Umgebung mit ihren Wiesen und Wäldern kam ich zu Ruhe. Wir Pfadfinder erwanderten uns die Umgebung. Selbst als Erwachsener war ich noch Jahrzehnte mit dem Fahrrad und meinem Schlafsack unterwegs. Das waren meine Möglichkeiten, am Leben teilzunehmen und gleichzeitig einen gewissen Abstand zu halten. Wurde es belastend, schloss ich oft meine Augen und rettete mich in meine Traumwelten. 

Jetzt ist es wirklich dunkel in meinen Augen geworden und es bleibt mir nichts Anderes übrig, als mich mit meinem Leben auszusöhnen. Gelähmt durch die Depression fällt es mir schwer, mich an all das Schöne und Aufregende zu erinnern, das mir in diesem Leben auch geschenkt wurde.